Sagen und Legenden

Die Geschichte vom Ulmer Spatz

Wie ein vermeintlich dummes Tier uns Wichtiges lehren kann und so zum Wahrzeichen einer Stadt wurde.

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Das Original des „Ulmer Spatz“ von 1858 vom Münsterdach.
Das Original des „Ulmer Spatz“ von 1858 vom Münsterdach.

Als die Ulmer 1377 begannen, ihr Münster mit dem höchsten Turm im Land zu bauen, trug sich folgende Begebenheit zu: Für das Baugerüst waren die längsten und kräftigsten Stämme in den Wäldern gefällt worden und vor das Stadttor geschafft. Dort aber merkte man, dass das Tor viel zu wenig breit war, um die Stämme hindurch zu bringen.

Die klugen Ulmer beratschlagten und hätten gar schon das Tor samt dem schönen Turm darauf eingerissen, da zeigte einer von ihnen, der gerade in die Luft geguckt hatte, nach oben und rief: „Ich hab's!” Da sahen die Männer einen kleinen Spatz, der ihnen sonst ganz unnütz dünkte, da er nur die Körner auf dem Feld wegfraß, wie er einen langen Halm in seine Nisthöhle schleppte. Aber anstatt quer mit ihm hängen zu bleiben wie die Ulmer mit den Baumstämmen am Stadttor, zog er ihn längs durch das kleine Loch. Da taten die Ulmer ihm nach und konnten ihr Münster doch noch fertig bauen.

Zur Erinnerung an das kluge Tier setzten sie ihm ein goldenes Denkmal hoch oben auf dem First des Münsterdachs. Dort kann man den Spatz von Ulm auch heute noch blinken sehen. Die Ulmer tragen seitdem den Spitznamen „Spatzen“.

Der Ulmer Spatz

Anno dazumal vor vielen Jahren
Ist den Ulmern Folgendes widerfahren:
Zu allerlei Bauten in der Stadt
Man Rüst- und Bauholz nötig hat‘,
Doch wollt es den Leuten nicht gelingen
Die Balken durchs Tor hereinzubringen,
Und doch war reiflich die Sach‘ überlegt
Das Holz in die Quer‘ auf den Wagen gelegt;
Das Tor war zu eng, die Balken zu lang,
Dem Stadtbaumeister ward angst und bang.

Viel gab es hin und her zu sprechen:
Und ungeheures Kopfzerbrechen,
Ja, selbst der hohe Magistrat
Wusste für diesen Fall nicht Rat,
Er mochte in alle Bücher sehen,
Der Casus war nirgends vorgesehen,
Der Bürgermeister selbst sogar
Hier ausnahmsweise ratlos war.
Ihm, der doch alles am besten weiß,
Machte die Sache entsetzlich heiß.

Und stündlich wuchs die Verlegenheit,
Da – begab sich eine Begebenheit
Von den Klügsten einer ein Spätzlein schauet,
Das oben am Turm sein Nestlein bauet,
Und einen Halm, der sich in die Quer‘
Gelegt hat vor sein Nestchen her,
Mit dem Schnäblein – und das war nicht dumm
An der Spitze wendet zum Nest herum,
„Das könnte man“, ruft der Mann mit Lachen,
„Mit dem Balken am Tore ja auch so machen!“.

Man probiert‘s und es ging. – Den guten Gedanken
Hatten die Ulmer dem Spätzlein zu danken:
Sie stünden wohl heute noch an dem Tor
Mit dem balkenbeladenen Wagen davor,
Oder hätten, ohne des Spätzleins Wissen,
Gar den Turm auf den Abbruch verkaufen müssen.
Zum Danke dem Spatzen ist heut noch zu schauen
Hoch am Münster sein Bild in Stein gehauen:
Auch seitdem beim echten Ulmerkind
Die Lieblingsspeise „Spätzle“ sind.

Text nach Carl Hertzog (1842)

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