Jenny Wagner vom Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg hat den Landespreis für mutige Wissenschaft 2020 erhalten.
Mit dem Preis für mutige Wissenschaft würdigt das Land Baden-Württemberg exzellente Forscherinnen und Forscher, die ausgetretene Wege verlassen und ihre Forschungsarbeit mit besonders viel Mut und Wagnis vorangetrieben haben. Mit enormem Fachwissen und großer Beharrlichkeit hat Dr. rer. nat. Jenny Wagner am Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg (ZAH) ihre wissenschaftliche Arbeit – auch gegen die Widerstände gängiger Fachmeinungen – vorangetrieben und publiziert.
Innovative wissenschaftliche Methoden
„Jenny Wagner gelangt über ebenso ungewöhnliche wie innovative Methoden zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Mit beeindruckendem Mut und viel Risikobereitschaft geht die Preisträgerin erfolgreich ihren Weg, auch gegen Widerstände. Sie hat von Beginn ihrer Karriere an hohes Risiko durch den Sprung zwischen den wissenschaftlichen Feldern bewiesen: Von ihrem Start in der Teilchenphysik zur Promotion in den Lebenswissenschaften bis zu ihrer Arbeit als Quereinsteigerin in der Kosmologie. Für unsere Jury war daher klar: Jenny Wagner ist ein ‚perfect match‘ für den Preis für mutige Wissenschaft“, sagte Wissenschaftsministerin Theresia Bauer.
Für Dr. Jenny Wagner ist der Preis für mutige Wissenschaft des Landes Baden-Württemberg Bestätigung und Antrieb zugleich: „Die Auszeichnung bedeutet mir in doppelter Hinsicht sehr viel. Auf persönlicher Ebene freue ich mich sehr darüber, dass mein Mut zum Risiko und meine Mühen honoriert werden. Auf fachlicher Ebene freut mich umso mehr, dass diese Forschungsrichtung nach langer Zeit die Chance bekommt, aus dem Schatten der Standardmethoden herauszutreten. Dieser Preis ist daher nicht nur eine Ermutigung für mich, sondern für alle, die ebenfalls diesen unkonventionellen und bisweilen auch mühevollen Weg eingeschlagen haben.“
Die Auszeichnung ist mit 30.000 Euro dotiert. Auf eine offizielle Preisverleihung muss im Zuge der coronabedingten Kontaktbeschränkungen in diesem Jahr leider verzichtet werden. Gewürdigt wird die Preisträgerin mit einem eigenen Filmporträt.
Jenny Wagner (*1984) absolvierte von 2003 bis 2008 ein Diplomstudium an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg in den Fächern Physik, Mathematik und Informatik. Aus einem Forschungsprojektpraktikum am CERN ging ihre Diplomarbeit zum Thema Datenkompression für den ALICE Detektor hervor. Ab 2008 arbeitet sie als Forschungsassistentin zunächst am Institut für Theoretische Physik, anschließend am Heidelberg Collaboratory for Image Processing an der Universität Heidelberg. Ihre interdisziplinären Dissertationsstudien an der Universität Heidelberg in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) schloss sie 2011 mit einer Doktorarbeit zum Thema Qualitätskontrolle auf Basis von Bildverarbeitung in der Peptidchiparrayproduktion ab. Nach weiteren Stationen als Forschungsassistentin am Physikalisch-Chemischen Institut der Universität Heidelberg sowie an der Universität Ulm trat sie 2014 eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte eigene Stelle als PostDoc am Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg (ZAH) an. Seitdem forscht sie dort zum Themenbereich „Beobachtungsbasierte Charakterisierung und Modellselektion von Gravitationslinsen“. 2017 arbeitete sie in Teilzeit am Heidelberger Institut für Theoretische Studien. Zudem ist sie seit 2012 (Mit-)Herausgeberin des Lehrbuchs „Physik für Studierende der Naturwissenschaft und Technik“ von P. Tipler und G. Mosca im Springer-Spektrum Verlag.
Kontaktdaten der Preisträgerin:
Dr. rer. nat., Dipl. phys. Jenny Wagner
Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg (ZAH)
Mönchhofstraße 12-14
69120 Heidelberg
E-Mail: J.Wagner@uni-heidelberg.de
Auf der Grundlage seiner allgemeinen Relativitätstheorie wies Albert Einstein nach, dass Licht durch die Schwerkraft abgelenkt wird, weil es Bahnen folgt, die sich in der Nähe von massiven Objekten krümmen. Wenn die Massendichte des ablenkenden Objekts einen bestimmten Schwellenwert überschreitet, kann das Licht über verschiedene gekrümmte Bahnen am Objekt vorbeiziehen, so dass mehrere, stark verzerrte Bilder der Quelle beobachtet werden. Dieser Effekt wird als starker Gravitationslinseneffekt bezeichnet.
Seit 40 Jahren erlauben Beobachtungen von starken Gravitationslinseneffekten, die Verteilung von Dunkler Materie in Galaxien und Galaxienhaufen zu untersuchen. Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass man zur genauen Rekonstruktion der Gravitationslinse die Quelle der beobachteten Bilder kennen müsste. Diese ist jedoch hinter der Linse verborgen und damit unsichtbar für uns. Zum anderen bestehen Gravitationslinsen selbst meist zu einem Großteil aus Dunkler Materie, die wir noch nicht direkt beobachten können. Die Lösung dieses Huhn-Ei-Problems wird dadurch erschwert, dass uns nur wenige, im Bereich der Linse dünn verteilte, verzerrte Bilder vorliegen. Der Mangel an verfügbaren Messdaten wird gewöhnlich durch das Hinzufügen von Modellannahmen kompensiert, die auf Simulationen oder Beobachtungen
von anderen Galaxien beruhen. Im Ergebnis lässt sich so nur die wahrscheinlichste Form, Farbe, und so weiter des Hintergrundobjekts oder die wahrscheinlichste Zusammensetzung und Form einer Gravitationslinse bestimmen.
Rekonstruktion von Gravitationslinsen
„Die Schaffung solcher Voraussetzungen oder Annahmen ist ein Problem“, erklärt Jenny Wagner: „Denn es bleibt immer ein Restzweifel, ob die Modellannahmen der Realität entsprechen. Zumal auch die Annahmen unsere Interpretation der Daten immens beeinflussen.“ Dieser Restzweifel in einer modellbasierten Kosmologie hat Jenny Wagner dazu inspiriert, einen anderen Weg zu gehen: den der beobachtungsbasierten Kosmologie. Dieser Ansatz ist nicht neu (er stammt aus den 1980er-Jahren), aber er ist im Zuge der dominierenden modellbasierten Kosmologie fast in Vergessenheit geraten. Die beobachtungsbasierte Kosmologie reduziert die Gravitationslinsenbeschreibung auf den rein durch Daten bestimmbaren Teil. Zwar gewinnt die Wissenschaft damit nur lokale Informationen über die Dunkle Materie, dafür jedoch frei von Annahmen, die Inkonsistenzen erzeugen. Die resultierende lokale Linsenrekonstruktion ist eine mathematisch bewiesene global-optimale Lösung. Zudem ist sie für alle Datensätze auf allen Größenskalen von Galaxien bis zu Galaxienhaufen dieselbe, schnell zu berechnen, daher leicht zu automatisieren und flexibel mit später erhaltenen Daten erweiterbar.
Wichtiger Beitrag zur beobachtungsbasierten Kosmologie
„Als ich meine Forschungen auf der Grundlage der beobachtungsbasierten Kosmologie begann, wurde die Methode als Rückschritt angesehen, verglichen mit den Ergebnissen, die modellbasierte Ansätze liefern“, erinnert sich Jenny Wagner. Um die Fachgemeinschaft vom Nutzen der Methode zu überzeugen, arbeitete sie die Vorteile der lokalen Informationen im Vergleich mit gängigen Modellrekonstruktionen heraus und erhöhte die Genauigkeit einer Modellrekonstruktion stark durch Einbau der neuen Formeln. „So erhalten wir die Klasse an Informationen über eine Linse, in der sich alle Modellrekonstruktionen einig sind“, betont Jenny Wagner. Aus dem „Rückschritt“ wird so ein Fortschritt, an dem Jenny Wagners wissenschaftliche Arbeit maßgeblichen Anteil hat. Inzwischen ist nicht nur sie davon überzeugt, dass sich ihr Beitrag zur beobachtungsbasierten Kosmologie in den nächsten Jahren mit der Fülle an gewonnenen Daten durchsetzen wird. Laut Schätzungen von 2019 wird die Dichte an Daten pro Galaxienhaufenlinse in zwei bis drei Jahren groß genug sein, um an circa 1.000 statt bisher 50 Punkten lokale Informationen über die Dunkle Materieverteilung zu berechnen.
Eine Auszeichnung, die Mut belohnt und Mut macht
Mit viel Mut, Risikobereitschaft und Beharrlichkeit hat Jenny Wagner am Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg (ZAH) ihre wissenschaftliche Arbeit – auch gegen die Widerstände vorherrschender Fachmeinungen – vorangetrieben und publiziert. Der Preis für mutige Wissenschaft des Landes Baden-Württemberg ist für sie Bestätigung und Antrieb zugleich: „Die Auszeichnung bedeutet mir in doppelter Hinsicht sehr viel. Auf persönlicher Ebene freue ich mich sehr darüber, dass mein Mut zum Risiko und meine Mühen honoriert werden. Auf fachlicher Ebene freut mich umso mehr, dass diese Forschungsrichtung nach langer Zeit die Chance bekommt, aus dem Schatten der Standardmethoden herauszutreten. Dieser Preis ist daher nicht nur eine Ermutigung für mich, sondern für alle, die ebenfalls diesen unkonventionellen und bisweilen auch mühevollen Weg eingeschlagen haben.“
Jenny Wagner
Die diplomierte Physikerin schloss 2011 ihre interdisziplinären Dissertationsstudien an der Universität Heidelberg in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) mit einer Doktorarbeit zum Thema Qualitätskontrolle auf Basis von Bildverarbeitung in der Peptidchiparrayproduktion ab. Im Anschluss war sie in verschiedenen Instituten als Forschungsassistentin tätig und ist seit 2012 (Mit-)Herausgeberin des Lehrbuchs „Physik für Studierende der Naturwissenschaft und Technik“. Seit 2014 forscht sie als PostDoc am Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg (ZAH). Jenny Wagner bezeichnet sich selbst als eine „Quereinsteigerin“, die in ihrer wissenschaftlichen Arbeit zur Kosmologie interdisziplinäre Ansätze und ungewöhnliche Methoden verfolgt.
Dabei geht es ihr um die großen Fragen der Kosmologie und um deren methodische Grundlagen gleichermaßen: Welche Informationen lassen sich aus Beobachtungen sogenannter Gravitationslinsen über Galaxien oder Galaxienhaufen gewinnen, die Billionen von Lichtjahren von uns entfernt sind? Wie können wir die physikalischen Grundlagen, die diesen Gravitationslinsen zugrunde liegen, präziser in der Sprache der Mathematik formulieren? Wer sich wie Jenny Wagner mit Dunkler Materie oder Gravitationslinsen wissenschaftlich auseinandersetzt, begibt sich zwangsläufig in Regionen, in denen die Vorstellung im Bereich des Unvorstellbaren liegt. Um sie beschreiben oder aus deren Beobachtung Erkenntnisse ableiten zu können, bedient man sich oftmals der Simulation oder setzt Modellannahmen voraus. „Wir müssen jede Voraussetzung und jede Annahme kritisch prüfen, da sie unsere Interpretation der Daten immens beeinflussen“, erklärt Jenny Wagner: „Denn oft haben wir nur wenige Daten, um diese Modellannahmen zu testen, und es bleibt ein Restzweifel, ob diese Modelle der Realität entsprechen.“
Den Einfluss dieser Annahmen zu hinterfragen, bildete den Ausgangspunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeit über eine „Beobachtungsbasierte Charakterisierung und Modellselektion von Gravitationslinsen“. Gegenüber den in der Kosmologie vorherrschenden modellbasierten Ansätzen beruht Jenny Wagners Methodik auf einem Ansatz, der sich rein auf verfügbare Daten stützt. Zwar gewinnt die Wissenschaft damit nur lokale Informationen über die Dunkle Materie, dafür jedoch frei von Annahmen, die Inkonsistenzen erzeugen. Um die Fachgemeinschaft vom Nutzen der Methode zu überzeugen, arbeitete die Heidelberger Wissenschaftlerin die Vorteile der lokalen Informationen im Vergleich mit gängigen Modellrekonstruktionen heraus und erhöhte die Genauigkeit einer Modellrekonstruktion stark durch Einbau neuer Formeln, die durch den neuen Ansatz gewonnen wurden.