Im ersten #ScienceTalk haben sich Wissenschaftsministerin Theresia Bauer und Prof. Ingo B. Autenrieth vom Universitätsklinikum Heidelberg über Wissenschaft und Politik in Corona-Zeiten, die Covid-19-Kinderstudie und wissenschaftliche Arbeitsweisen ausgetauscht.
Seit Ausbruch der Corona-Pandemie steht die Wissenschaft stärker im öffentlichen Fokus als vermutlich je zuvor. Zugleich wird deutlich, dass das Wesen der Wissenschaft und ihre Arbeitsweisen vielfach nicht vertraut oder verstanden sind. Kritik und Gegenthese, Korrektur und permanente Fortentwicklung gehören zum wissenschaftlichen Prozess dazu beziehungsweise sie zeichnen diesen aus. Das ständige Ringen um Verbesserung der Erkenntnisse ist Ausweis der Funktionsfähigkeit von Wissenschaft. Dadurch wird wissenschaftliche Qualität gesichert.
Der Umgang mit dem bislang unbekannten Virus und der globalen Pandemie hat auch dazu geführt, dass sich in den vergangenen Monaten eine neue Kultur enger Kooperation zwischen Politik und Wissenschaft etabliert hat, weil aktuelles und belastbares Fakten-Wissen für politische Entscheidungen enorm relevant wurde. Darüber tauschen sich Ministerin Theresia Bauer und Prof. Ingo B. Autenrieth im ersten #ScienceTalk des Wissenschaftsministeriums aus.
Beitrag zu mehr Wissen, Verständnis und Transparenz
Mit dem eigens aufgelegten neuen Gesprächsformat soll ein Beitrag zu mehr Wissen, Verständnis und Transparenz geleistet werden. Die baden-württembergische Wissenschaftsministerin spricht mit dem Leitenden Ärztlichen Direktor der Universitätsklinik Heidelberg im historischen, großen Hörsaal der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg über unterschiedliche Geschwindigkeiten und Logiken in Politik und Wissenschaft, über die jeweilige Rolle und (Miss-)Verständnisse, über die Notwendigkeit, die Sehnsucht nach einfachen Antworten zu beantworten mit der Fähigkeit, Komplexität auszuhalten, über die Dynamik, die das Corona-Virus ausgelöst hat wie auch über die Entstehung der baden-württembergischen Covid-19-Kinderstudie, insbesondere über die unterschiedlichen Wahrnehmungen in Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft zum Tempo, in dem die Ergebnisse der Studie vorgelegt wurden.
Wissenschaft im Fokus: Herausforderung und Chance
„Was mich sehr beeindruckt: Dass die Wissenschaft mit den Beiträgen, die sie leistet, auf einmal in einer anderen Weise in der Öffentlichkeit wahrgenommen und gesucht wird geradezu. Die Menschen haben große Hoffnung, dass Wissenschaft Erkenntnisse liefert, die uns helfen, diese Aufgabe zu meistern“, so Wissenschaftsministerin Bauer im #ScienceTalk. Sie können sich nicht daran erinnern, dass es in ihrer Amtszeit je eine solch intensive Aufmerksamkeit dafür gegeben habe, was die Wissenschaft an Lösungen und Erkenntnissen beitragen könne. Plötzlich gebe es Wissenschaftler, die schon fast den Rang von Popstars hätten – „mit all den negativen Effekten, die dann auch dazu kommen: ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben, sie zu attackieren.“ Zugleich schaue die Gesellschaft genauer hin – „was sehr gut ist“ und frage „wie arbeiten die eigentlich?“ Und auch die Politik suche eine andere Nähe zur Wissenschaft. So empfinde sie die regelmäßige Teilnahme von Wissenschaftlern an Kabinettssitzung der Landesregierung als enorme Bereicherung. „Nicht, weil sie uns die Entscheidungen abnehmen, aber weil sie uns die Grundlagen liefern, um faktenbasiert Entscheidungen treffen zu können.“
Unterschiedliche Logiken und Zeitläufe, oftmals fehlendes Wissen
„Ich erlebe es überwiegend positiv, weil es uns eine Chance bietet, um Verständnis zu werben, wie Medizin und Wissenschaft funktioniert. Ich erlebe aber auch, dass das Wissen umeinander, die Spielregeln, wie Prozesse funktionieren, wie funktioniert Wissenschaft und welche Rolle, welche Aufgaben hat sie, auch der Spagat zwischen Grundlagen- und Auftragsforschung, nicht ausreichend ist“, beobachtet Uniklinik-Chef Prof. Autenrieth. Eine Schwierigkeit sei die Dynamik des Prozesses: „Die Entscheidungen, die die Politik treffen muss, die verlangen Handlung, da kann man nicht zögern. Und die Prozesse und die Zeitstrahlen bis aus der Wissenschaft nicht nur Daten, sondern Wissen und aus Wissen Erkenntnisse und aus Erkenntnissen Entscheidungsoptionen resultieren, diese Dynamik ist im Augenblick unglaublich“, so Autenrieth. In jedem Fall sei es Zeit, darüber zu sprechen, wie das Verhältnis zueinander sei und das Verständnis füreinander zu fördern – so könne auch die Gesellschaft besser damit umgehen.
„Wir wissen sehr oft, dass wir nicht alles wissen und müssen doch ins Risiko gehen, versuchen, den richtigen Schritt zu gehen. Das gehört zum politischen Geschäft“, so Bauer. Es gehe darum, zu handeln. Entscheidungen zu treffen, die auch Zumutungen für die Menschen beinhalten, die zum Teil auch nur sehr schwer zu tragen sind. Aber: „Dinge, die man nicht tut, sind manchmal genauso schlecht wie Dinge, die man falsch tut“, sagt die Ministerin. Wissenschaft sei einer anderen Logik, nicht dieser Schnelligkeit unterworfen, dem Druck, in Unklarheit sich festzulegen, „sie muss eine andere Gründlichkeit an den Tag legen. Und trotzdem, weil wir so dringend angewiesen sind darauf, mehr zu wissen, vermute ich, drängeln wir viel mehr als unter Normalbedingungen.“
Einblicke in den Maschinenraum der Wissenschaft: Covid-19-Kinderstudie
Zu wenige Menschen wüssten, wie es im „Maschinenraum der Wissenschaft“ zugehe, wie Ab- und Zeitläufe sind, was besonders bei der Vorstellung der Zwischen- und vorläufigen Endergebnisse der international stark beachteten Covid-19-Kinderstudie deutlich geworden sei, die die baden-württembergischen Universitätskliniken unter Leitung der Uniklinik Heidelberg durchgeführt haben – „Warum brauchen Sie so lange? Was ist das los?“, fragt Ministerin Bauer im Talk daher Professor Autenrieth, der die wissenschaftlichen Abläufe erläutert.
Forschung muss neues Wissen generieren und den Menschen nützen
Wichtig sei zudem, so der Uniklinik-Chef, die beiden Dimensionen der Forschung im Blick zu behalten: Einerseits müsse sie neues Wissen generieren. Andererseits müsse sie – gerade in der Medizin – relevant sein, dass sie den Menschen nütze. „Es ist wichtig, dass wir uns darüber klarwerden und der Gesellschaft klarmachen, dass wir nicht nur unser Augenmerk auf das, was unmittelbar nützlich ist, richten in der Forschung“, betont Autenrieth. So müsse die Bandbreite der Wissenschaft im Blick behalten werden. „Wir brauchen immer viel Grundlagenforschung“. Viele Erkenntnisse in der Forschung kämen zufällig zustande, oder sie würden aus der Grundlagenforschung – langfristige Forschungsprozesse, die über Jahrzehnte laufen – plötzlich eines Tages für eine praktische Fragestellung, ob Corona-Viren oder EHEC, relevant. „Die Forschung ist schwer vorhersehbar. Deshalb brauchen wir diese große Bandbreite, um eines Tages erfolgreich zu sein. Das ist nicht immer planbar.“ Deshalb sei es wichtig, der Öffentlichkeit zu vermitteln, „wie lange Atemzüge, die Schrittfolgen und Schrittlängen sind. Und dass wir uns breit aufstellen müssen.“
Mehr (Wissenschafts)kommunikation
Besondere Bedeutung komme der Wissenschaftskommunikation zu – dabei dürfe nicht zu früh zu viel versprochen oder versucht werden, zu einfache Antworten zu geben, sagt Bauer. Autenrieth führt aus: „Man kann die Zeit nicht anhalten und sagen, nein, wie machen weiter wie bisher in unserer Kommunikation und Wissensgenerierung und Entscheidungsfällung. Jetzt, zugespitzt in dieser Pandemiephase, muss die Wissenschaft sich auch in ihrer Art und Weise, wie sie Daten zu Publikationen bringt, sich vielleicht auf unterschiedliche Mechanismen vor dem Kontext unterschiedlicher Erfordernisse einigen und sich auch überlegen: Wie kann ich nicht nur eine dicke Publikation, die schon ein Wissenschaftler Mühe hat manchmal zu lesen, sondern wie kann ich auch der Öffentlichkeit besser vermitteln?“, unterstreicht Autenrieth.
Politik und Wissenschaft müssen im ständigen Austausch bleiben
Es sei wichtig, die beiden Kulturen im Gespräch zueinander zu bringen, um in den unterschiedlichen Logiken, in denen Politik und Wissenschaft agieren, mehr voneinander zu wissen – im Diskurs zu bleiben. Die Prozesse in Politik und Wissenschaft seien nicht kongruent, sie laufen nebeneinander. Sie können nicht hintereinander geschalten werden im Sinne „jetzt lassen wir erst mal die Wissenschaft arbeiten und dann die Politik entscheiden“, so Bauer. Das bedeute, dass immer wieder überprüft werden müsse, ob sich im Handlungs- und Entscheidungsbedarf der Politik neue Fragen ergeben. Die Politik ihrerseits müsse schauen, ob der neue Stand der Wissenschaft wieder neue Erkenntnisse hervorgebracht hat, die eine Korrektur der Entscheidungen verlange.
„All diejenigen, die in einer solchen Situation wie jetzt nach einfachen Antworten suchen und die gerne von der Politik ganz eng an die Hand genommen würden oder darauf hoffen, wenn es die Politik schon nicht kann, dass es die Wissenschaft tun soll, all diejenigen, die hoffen, es möge irgendjemanden geben, der ihnen diese Klarheit und Sicherheit vermittelt, die werden wir wahrscheinlich auch in Zukunft ein Stück weit enttäuschen müssen“, warnt Ministerin Bauer. „Wir müssen es schaffen, damit gut klarzukommen.“
Theresia Bauer ist seit 2011 Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, sie ist die dienstälteste Wissenschaftsministerin in Deutschland und dreimalige Wissenschaftsministerin des Jahres.
Prof. med. Ingo B. Autenrieth ist seit 2020 Leitender Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Heidelberg. Seit 2006 war er Dekan der Medizinischen Fakultät und Vorstandsmitglied des Universitätsklinikums Tübingen.
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