In den Kinderkliniken im Land wurden in den letzten Wochen ungewöhnlich viele Kleinkinder mit Atemwegserkrankungen eingewiesen. Um in der akuten Krise schnell handeln zu können, haben sich die an der Versorgung beteiligten Akteure auf weitere Maßnahmen verständigt.
In den baden-württembergischen Kinderkliniken hat sich in den letzten Wochen eine massive Zunahme von Infektionskrankheiten gezeigt, die ganz besonders sehr junge Kinder trifft. Diese Kinder waren in den vergangenen zwei Jahren in ihrer Umgebung pandemiebedingt stärker geschützt und konnten daher nicht die normale und wichtige Entwicklung ihrer Immunabwehr durchlaufen.
Das unterstreicht auch Professor Christian von Schnakenburg, Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche am Klinikum Esslingen und Landesvorsitzender des Verbandes Leitender Kinder- und Jugendärzte und Kinderchirurgen Deutschlands: „Die Kinderkliniken stehen vor einem echten Versorgungsengpass – durch Baden-Württemberg rollt eine doppelte Infektionswelle. Schon jetzt erfolgen zahlreiche Verlegungen aus Kapazitätsgründen.“
Aus Sicht des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration besteht akuter Handlungsbedarf. Daher hatte Gesundheitsminister Manne Lucha die an der Versorgung beteiligten Partnerinnen und Partner zu einem digitalen Fachgipfel am 18. November 2021 zusammengerufen.
Zunahme von Infektionskrankheiten bei Kindern
Die aktuelle Infektionswelle wird vor allem durch das RS-Virus (RSV) getrieben. Das RS-Virus – kurz für das Respiratorische Synzytial-Virus – ist eine Atemwegserkrankung, an der auch Erwachsene schwer erkranken können. Sie ist aber besonders für Frühgeborene, Säuglinge und Kleinkinder gefährlich. Diese können ausgesprochen schwere Lungenentzündungen bekommen. Problematisch ist besonders, dass jetzt zwei Jahrgänge von Kindern aufeinandertreffen, die die Infektion noch nicht durchlaufen haben.
„Die Hospitalisierungszahlen für RSV haben in eineinhalb Monaten schon die Zahlen überschritten, die wir sonst über fünf Monate erreichen. Wenn zu dieser Infekt-Welle noch eine Influenza-Welle hinzukäme, würde die Pädiatrie garantiert überlastet werden. Auch jetzt schon gibt es Phasen, in denen die Notfallversorgung von Kindern stellenweise nicht mehr adäquat gewährleistet werden kann“, sagte Dr. Friedrich Reichert, Ärztlicher Leiter der Kindernotaufnahme vom Klinikum Stuttgart. Die gleiche Lage zeichnet sich bei den niedergelassenen Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzten ab.
Digitaler Fachgipfel mit Expertinnen und Experten
Bei dem von Gesundheitsminister Manne Lucha einberufenen Fachgipfel wurden die akuten Probleme der Medizinerinnen und Mediziner intensiv diskutiert und mögliche Wege aus der Krise erörtert.
Der Pädiater Dr. Thomas Kauth aus Ludwigsburg, der den Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte und die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg auf dem Gipfel vertrat, betonte: „Das Bollwerk der Kinder- und Jugendarztpraxen versorgt über 90 Prozent dieser Kinder ambulant. Ungewöhnlich viele Kleinkinder müssen wegen starker Atemnot in Kinderkliniken eingewiesen werden. In den Praxen kommt es zu einem Anstieg auf 160 bis 180 Prozent der schon vor Corona sehr hohen Fallzahlen der infektkranken Kinder.“
Insbesondere die bundesgesetzlichen Regelungen führen zu einer Verknappung der tatsächlich vorhandenen Kapazitäten. Dazu sagte der Pflegedirektor des Klinikums Stuttgart, Oliver Hommel: „Die Konsequenzen der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung stellen die Kinderkliniken in der aktuellen Versorgungslage vor einen Konflikt. Die knappe Ressource der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege muss kurzfristig durch Pflegeassistenz und andere medizinische Fachberufe gestärkt werden.“
Abstimmung weiterer Maßnahmen zur Krisenbewältigung
Auf dem Fachgipfel verständigten sich die an der Versorgung beteiligten Partnerinnen und Partner einstimmig auf weitere Maßnahmen, um in der akuten Krise schnell handeln zu können. Das Land Baden-Württemberg unterstützt die Versorgung mit den im Land vorhandenen Mitteln. So wird beispielsweise kurzfristig geprüft, welche automatisierten elektronischen Meldesysteme genutzt werden können, um die Kliniken bei der sogenannten Patientenallokation (Zuweisung/Verteilung von Patienten) zu unterstützen.
Zusätzlich wurde mit den Partnern diskutiert, ob die in der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung genannten Ausnahmetatbestände großzügig für alle Kinderkliniken angewendet werden können. Daneben wird es eine gemeinsame Empfehlung der Expertinnen und Experten an die Bundesregierung zur Stärkung der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen geben.
Gesundheitsminister Manne Lucha dankte zum Abschluss des Gipfels allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für die sehr konstruktive, zielgerichtete Zusammenarbeit in schwierigen Zeiten: „Heute hat sich wieder gezeigt, wie eng alle an der Versorgung beteiligten Partnerinnen und Partner in Baden-Württemberg zusammenstehen und an einem Strang ziehen, um die extrem angespannte Situation in den Kinderkliniken schnell zu verbessern. Darüber hinaus muss nun auch der Bund seiner Verantwortung gerecht werden und seine gesetzgeberischen Kompetenzen ausschöpfen. Wir dürfen die Kleinsten und Schwächsten unserer Gesellschaft nicht alleine lassen.“
Weitere Informationen
Das Respiratorische Synzytial-Virus (kurz RS-Virus oder RSV) ist bei Säuglingen und Kleinkindern bis zum Alter von zwei Jahren der häufigste Auslöser von akuten Infektionen der unteren Atemwege. In den ersten drei Lebensmonaten können diese besonders schwer verlaufen. Sehr gefährdet sind zum Beispiel Frühgeborene, Kinder mit chronischen Lungenerkrankungen oder angeborenen Herzfehlern.
Grundsätzlich können Infektionen mit RS-Viren, die vor allem in den Wintermonaten und im Frühjahr gehäuft vorkommen, jeden treffen. Während ältere Kinder und Erwachsene in aller Regel nur leichte, erkältungsähnliche Symptome entwickeln, greifen RS-Virus-Infektionen in den ersten Lebensmonaten leicht von den oberen auf die unteren Atemwege über.
Seit Januar 2019 gelten für Krankenhäuser verbindliche Pflegepersonaluntergrenzen in pflegesensitiven Bereichen. Das Instrument „Pflegepersonaluntergrenzen“ legt für jeden pflegesensitiven Bereich stationsbezogen eine Mindestanzahl von Pflegekräften zur Versorgung einer festgelegten Anzahl an Patientinnen und Patienten fest. Wird im Monatsdurchschnitt weniger Pflegepersonal als vorgeschrieben eingesetzt, muss das Krankenhaus Vergütungsabschläge hinnehmen oder zukünftig die Patientenzahl reduzieren. In der Pandemie hat sich gezeigt, dass die Aussetzung dieser Untergrenzen ein geeignetes Mittel ist, um die Kapazitäten kurzfristig zu erhöhen.
Das „rescuetrack Resource Board“ vernetzt Kliniken, Leitstellen und Ministerien und sorgt für einen übersichtlichen und minutenaktuellen Überblick der Ressourcen. Dabei stehen historische Daten genauso wie Trends und Hinweise zur Verfügung.