Landes-Behindertenbeauftragte Simone Fischer sieht die steigende Nachfrage nach Leistungen der Eingliederungshilfe als positives Zeichen. Menschen mit Behinderungen nehmen ihre Rechte und Nachteilsausgleiche wahr. Der Zugang zu personenzentrierten und qualitativ hochwertigen Leistungen muss einfach, zügig und inklusiv sein.
Anlässlich der vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg veröffentlichten Zahlen zu Leistungen der Eingliederungshilfe in Baden-Württemberg im Jahr 2022 vom 27. Februar 2024 wies die Beauftragte der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Simone Fischer, am 27. Februar 2024 in Stuttgart darauf hin, dass die steigende Nachfrage nach Leistungen der Eingliederungshilfe im Jahr 2022 ein positives Zeichen sei. „Es zeigt, dass Menschen mit Behinderungen ihre Rechte und Nachteilsausgleiche zunehmend besser wahrnehmen. Sie müssen einfach und zügig Zugang zu Leistungen in der Bildung, am Arbeitsmarkt, beim Wohnen, der Rehabilitation und im Alltag erhalten.“, so Simone Fischer.
Zu wenig Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt
„Allerdings wird sehr deutlich, dass Menschen mit wesentlichen Behinderungen bisher kaum von den Entwicklungen am allgemeinen Arbeitsmarkt profitieren. Der Großteil der Leistungsberechtigten – und zwar 27.000 von 27.160 Personen – erhält Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in gesonderten Einrichtungen wie der Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Es ist nicht zufriedenstellend, wenn nur 0,6 Prozent der leistungsberechtigten Menschen außerhalb von Werkstätten arbeiten, obwohl es beispielsweise mit dem Budget für Arbeit nach Paragraph 61 Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch einen Rechtsanspruch sowie mit ergänzenden Lohnkostenzuschüssen und Jobcoaching Lösungen und Mittel gibt, die den Weg in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit Arbeitnehmerrechten eröffnen und sichern. Damit gibt es Alternativen“, betont Simone Fischer.
Dennoch sei es für die 27.000 Personen immer noch zu schwer, einen Arbeitsplatz außerhalb der Werkstatt zu finden. „Sind sie einmal in der Werkstatt, ist dies meist eine Einbahnstraße. Der Auftrag der Werkstätten aus Paragraph 219 SGB Neuntes Buch, den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu fördern, gelingt bei einer Übertrittsquote von um ein Prozent seit Jahrzehnten zu selten“, so Simone Fischer. Allein 37 Personen hätten in Baden-Württemberg zum 31. Dezember 2022 das Budget für Arbeit in Anspruch genommen. Dabei böte es eine wichtige Möglichkeit, Menschen mit wesentlichen Behinderungen die notwendige Unterstützung zu geben, um auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen beziehungsweise den Arbeitsplatz zu erhalten.
Bildungsgerechtigkeit gewährleisten und zeitgemäße Voraussetzungen schaffen
„Dass 15.635 Empfängerinnen und Empfänger im Jahr 2022 Leistungen zur Teilhabe an Bildung erhielten, bedeute nicht automatisch, dass mehr Inklusion stattfindet. Bildungsgerechtigkeit bedeutet, dass Schülerinnen und Schüler wohnortnah allgemeine Schulen vorfinden, die ausgestattet sind, um dem Bedarf aller Kinder zu begegnen. Jene mit Behinderungen und ihre Eltern erleben allerdings, dass sie vielfach auf Förderschulen und spezialisierte Einrichtungen, auch fern des Wohnorts, verwiesen werden und die Schulen am Wohnort nicht darauf ausgerichtet sind, Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen selbstverständlich aufzunehmen“, so die Landes-Behindertenbeauftragte.
Seit Jahrzehnten führe der Weg für Kinder mit Behinderungen vermehrt ins Sondersystem, da die Voraussetzungen immer noch verstärkt darauf ausgerichtet seien. Hingegen sei die Inklusion an allgemeinen Schulen weiterhin mit zig Hürden verbunden. „Die Transformation des Bildungssystems in die Inklusion, wie es die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN) auch für Deutschland vorsieht, ist zäh. Sie dauert zu lange. Auch wenn die Leistungen zur Teilhabe an Bildung im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr um acht Prozent gestiegen sind, ist Inklusion in der schulischen Bildung noch nicht hinreichend umgesetzt.“
Der Weg in die Werkstatt ist zu oft vorprogrammiert
Nicht einmal die Hälfte der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf besuche eine allgemeine Schule. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen sei seit Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention kaum gesunken, vielmehr sei eine Steigerung zu beobachten. Deutschlandweit verlassen im Durchschnitt 75 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Förderschulen ohne Schulabschluss. Schließlich gehen sie in theoriereduzierte Ausbildungen, der Weg in die Werkstatt ist vorprogrammiert. Damit haben sie ein höheres Risiko, in prekären Beschäftigungsverhältnissen zu landen und Sozialleistungen zum Lebensunterhalt zu beziehen. Von den Förderschülerinnen und Förderschülern, die im Rahmen der Inklusion an Regelschulen unterrichtet werden, schaffen hingegen knapp die Hälfte einen Schulabschluss. Sie haben andere Ausgangsbedingungen für schulisches und berufliches Lernen.
„Wir haben in Baden-Württemberg viel Potenzial, um die inklusive schulische Bildung voranzubringen sowie einen inklusiven Arbeitsmarkt zu schaffen. Deshalb fordere ich spürbare Verbesserungen, die im Alltag der Menschen ankommen müssen“, bekräftigte die Landes-Behindertenbeauftragte. Gemeinsam mit den Beauftragten des Bundes und der Länder für die Belange von Menschen mit Behinderungen habe sie zu den Themen Bildung (PDF) und Arbeit (PDF) bereits entsprechende Anpassungen und konkrete Maßnahmen gefordert.
Voraussetzungen und Zugänge zu Leistungen vereinfachen
„Es bedarf verstärkter Anstrengungen, Impulse und Instrumente, um die persönliche Assistenz und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen beim Wohnen, in der Schule, bei der Arbeit, der Rehabilitation und im Alltag zu verbessern. Grundsätzlich ist dafür das Persönliche Budget die entscheidende und inklusive Leistungsform, damit Menschen mit Behinderungen selbständiger und flexibler leben sowie mehr verantworten können. Es wird in Baden-Württemberg insgesamt immer noch zu wenig genutzt. Rund 2,4 Prozent der Leistungsberechtigten erhalten das Persönliche Budget. Zum Vorjahr gibt es nur eine minimale Steigerung um 0,1 Prozent, dabei ist es die zeitgemäßeste und individuellste Form der Leistungsgewährung und der Selbstbestimmung.“ sagt die Landes-Behindertenbeauftragte. „Hier sind auch die finanzierenden Stellen in der Verantwortung, entsprechend aktiv zu werden, die Leistungsberechtigten dahingehend zu beraten und die Zugänge zu vereinfachen“, so die Landes-Behindertenbeauftragte.
Simone Fischer sagt: „Wenn mehrere Reha-Träger oder Leistungen, beispielsweise während einer medizinischen Rehabilitation oder zusätzliche Pflegeleistungen, erforderlich sind, kann es nicht sein, dass die leistungsberechtigte Person nach wie vor ihre Ansprüche bei jedem Träger einzeln geltend machen muss, was für sie vielfach zu langwierigen und belastenden Verfahren führt. Das Prinzip ‚Leistungen wie aus einer Hand‘ nach dem Bundesteilhabegesetz muss im Sinne der Menschen mit Behinderungen wirksam, schnell und umfassend umgesetzt werden.“
UN-Behindertenrechtskonvention
Grundlage ist das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte der Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention, kurz: UN-BRK), das seit 2009 für Deutschland verbindlich gilt. Es hat den Rang eines Bundesgesetzes. Die 185 unterzeichnenden Staaten verpflichten sich unter anderem, dass Menschen mit Behinderungen voll und wirksam in die Gesellschaft einbezogen werden und an ihr teilhaben können.
Die UN‐BRK bekräftigt in Artikel 27 das gleiche Recht aller Menschen, eine realistische Möglichkeit zu haben, ihren Lebensunterhalt durch eine frei gewählte Arbeit zu verdienen. Artikel 24 und Artikel 7 konstatieren, dass innerhalb des allgemeinen Bildungssystems geeignete Vorkehrungen getroffen werden und die notwendige Unterstützung geleistet wird, damit Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen gleichberechtigt mit Schülerinnen und Schülern ohne Behinderungen Zugang zu einem einbeziehenden, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht haben und eine angemessene Bildung erreichen.
Darüber hinaus ruft die UN‐Behindertenrechtskonvention dazu auf, Sonderstrukturen im Bereich Bildung und Arbeit, wie zum Beispiel Sonderschulen und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, kontinuierlich in inklusive Regelstrukturen zu überführen.
Ende August 2023 wurde im Rahmen einer Staatenprüfung vor dem Fachausschuss der Vereinten Nationen geprüft, wie die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland umgesetzt werden. Hinsichtlich der separierenden Strukturen im Bildungs- und Arbeitsbereich wurde Deutschland gerügt. Die abschließenden Bemerkungen vom 12. September 2023 enthalten Empfehlungen zur Umsetzung der UN-BRK und adressieren alle förderalen Ebenen.