Der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, hat die „Stuttgarter Rede zu Europa“ gehalten. Im Anschluss diskutierten Juncker und Ministerpräsident Winfried Kretschmann zur Gegenwart und Zukunft der Europäischen Union.
„Derzeit lebt ganz Europa zwischen Hoffen und Bangen: Überall erleben wir die Angst vor dem Corona-Virus. Aber wir erleben auch Solidarität und Miteinander. Die Europäische Union muss in der Corona-Krise zusammenstehen“, so Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Stuttgarter Rede zu Europa“. Begrüßt vom Minister der Justiz und für Europa Guido Wolf hielt in diesem Jahr der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker in einer virtuellen Veranstaltung die Rede. Im Anschluss diskutieren Jean-Claude Juncker und Winfried Kretschmann zur Gegenwart und Zukunft der EU.
EU ist und bleibt Erfolgsgeschichte
„Inmitten der Corona-Krise geht der Blick auf das Große und Ganze verloren. Europa und die Europäische Union werden kritisiert, nicht immer zu Unrecht“, so Jean-Claude Juncker. „Die Europäische Union ist und bleibt eine Erfolgsgeschichte. Auf sich alleine gestellt wären ihre Mitgliedstaaten nur bedingt handlungsfähig.“
Europäischer Weg bei der Verteilung der Impfstoffe ist richtig
Die Europäische Union hat mit dem gemeinsamen Wiederaufbaufonds große Solidarität bewiesen. Es hat sich gezeigt: Bei einem Virus, das vor Grenzen keinen Halt macht, ist die europäische Zusammenarbeit wichtiger denn je. Auch bin ich fest davon überzeugt, dass der Weg der gemeinsamen Impfstoffbeschaffung der richtige war. Auch wenn in der Ausführung nicht alles optimal gelaufen ist“, so Kretschmann.
Ein wichtiges Signal würde in diesen Zeiten aus den USA kommen, sagte Kretschmann. „Es kommt von einem neuen Präsidenten, den wir als Freund Europas kennen. Der nicht spalten will, sondern zusammenführen. Und der gleich zu Beginn seiner Amtszeit das Ruder herumreißt – gerade auch beim Klimaschutz.“
Gemeinsam Klimawandel bremsen
Was man jetzt füreinander tun könne sei auch wichtig für die Zeit nach der Corona-Krise, so Kretschmann. „Auch dann müssen wir gemeinsam den Klimawandel bremsen, einen selbstbewussten europäischen Weg in der Digitalisierung gehen, den Rechtspopulismus bekämpfen und unsere Demokratie verteidigen.“
Eine Lehre aus dem Brexit sei es, dass wir den alten Nationalstaat immer noch brauchen würden, so Kretschmann. „Aber in der globalen Welt auf ihn allein zu setzen führt zur Selbtsverzwergung. Souveränität in der globalen Welt des 21. Jahrhunderts kann nur europäisch buchstabiert werden. In Baden-Württemberg verstehen wir uns als Lokomotive der europäischen Integration. Nicht von ungefähr gibt uns unsere Landesverfassung den Auftrag, aktiv an der Europäischen Integration mitzuwirken. Darum fühlten wir uns auch aufgefordert, uns nach dem Brexit und dem sogenannten Weißbuchprozess von Jean-Claude Juncker zur Zukunft der Europäischen Union aktiv in diese Debatte einzubringen. Mit Zufallsbürgerdialogen und Experten haben wir ein Europa-Leitbild der Landesregierung entwickelt. Und auch Formate wie die ,Stuttgarter Rede‘ sind Teil eines lebendigen Europas.“
EU als stabiler Anker
Der Minister der Justiz und für Europa Wolf sprach zum Auftakt der Veranstaltung. Er äußerte in seinem Grußwort die Hoffnung auf einen raschen Start der Konferenz zur Zukunft Europas. „Nachdem das langwierige Brexit-Kapitel nun fast abgeschlossen ist, ist es an der Zeit, unsere Kraft und Konzentration neu auszurichten. Auch in der aktuellen Situation sehen wir, dass die EU in den bestehenden Strukturen und Kompetenzen nicht ihre ganze Schlagkraft entfalten kann. Hier müssen wir besser werden“, so Wolf. „Dennoch hat sich die EU in den letzten Monaten immer wieder auch als stabiler Anker erwiesen. Ich nenne die finanziellen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, aber auch den Erfolg im Hinblick auf die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit. Hier geht es um die Glaubwürdigkeit der EU. Wenn sie nach innen ihre Werte nicht durchsetzt, kann sie es auch nicht nach außen.“
„Jean-Claude Juncker ist ein ganz entscheidender Akteur der Europäischen Einigung der vergangenen zwei Jahrzehnte und erprobter Krisenmanager gewesen“, würdigte Winfried Kretschmann seinen Gast Jean-Claude Juncker. Als Verteidiger der freiheitlichen Demokratie und überzeugter Europäer hätte Juncker immer klar Haltung gegenüber den Rechtspopulisten bezogen. „Juncker war und ist immer ein Vermittler – nicht nur zwischen den unterschiedlichen Mitgliedsstaaten, sondern vor allem auch zwischen den Menschen.“
Die „Stuttgarter Rede zu Europa“
Die Reihe „Stuttgarter Rede zu Europa“ bietet eine Plattform für den Austausch zu europapolitischen Grundsatzfragen. Die Veranstaltungsreihe wurde vom Staatsministerium aus Anlass des 50. Landesjubiläums im Mai 2002 mit dem damaligen Präsidenten des europäischen Konvents und ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing eröffnet. Weitere Gäste waren 2003 die damalige Spanische Außenministerin Ana de Palacio, 2004 der damalige Ungarische Präsident Prof. Ferenc Mádl, 2007 seine Eminenz Walter Kardinal Kasper, 2011 der Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Barroso, 2013 der Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz und 2014 der bulgarische Staatspräsident Rosen Plevneliev. Die „Stuttgarter Rede zu Europa“ unterstreicht damit die enge Verbindung Baden-Württembergs mit Europa.