Ministerpräsident Winfried Kretschmann spricht mit der Süddeutschen Zeitung über Politik im Eiltempo, das weltweite Gerangel um Schutzmasken und die Gefahr, dass sich in der Krise autoritäre Strukturen verfestigen.
Süddeutsche Zeitung: Können Sie zurzeit gut schlafen?
Winfried Kretschmann: Nicht sehr gut. Ich wache zu früh auf, dann gehen mir sofort die Dinge durch den Kopf. Man muss jetzt an sehr vielen Baustellen arbeiten und immer Abwägungen treffen. Die Gefahr, Fehler zu machen und etwas zu leicht oder zu schwer gegen das andere abzuwägen, ist groß. Das ist nicht gerade eine schlaffördernde Situation.
Wie kompensieren Sie den Stress?
Kretschmann: Ehrlich gesagt schau ich mir mit meiner Frau alte Filme an, von denen man weiß, wie sie ausgehen, vor kurzem haben wir zum Beispiel Star Wars angeschaut, das beruhigt vor dem Schlafen ungemein.
Wenn man immer nur die beste unter mehreren schlechten Antworten auswählen kann: Zerreißt einen das?
Kretschmann: Nein, die Abwägungen waren für mich relativ klar im Ergebnis. Und auch in der Ministerpräsidentenkonferenz haben wir doch immer schnell zu einem Konsens gefunden. Es gab noch keine heftigen Auseinandersetzungen darüber, ob eine Maßnahme sinnvoll ist oder nicht.
Der Tod des hessischen Finanzministers Thomas Schäfer zeugt davon, wie groß der Druck auf Politiker in der Krise ist. Wie groß ist die Angst, Fehler zu machen?
Kretschmann: Die unentwegte Kritik ist ja Normalzustand, selbst kleine Fehler werden skandalisiert und hochgespielt bis zum Bruch. Ich habe das schon öfter problematisiert. Im Normalmodus führt sie dazu, dass die Politiker sehr viel mehr auf Fehlervermeidung achten als auf Innovation. In der Krise hat sich das eher geändert. Die Journalisten haben einen anderen Blickwinkel. Der Freitod von Finanzminister Schäfer hat mich zutiefst erschüttert. Es ist furchtbar, wenn Menschen so hoffnungslos werden, dass sie keinen Ausweg mehr sehen.
Und doch werden sie angefeindet von Menschen, die um Ihre Existenz fürchten.
Kretschmann: Der Druck ist schon gewaltig, und manche Kritik ist schwer zu ertragen. Bei den Schutzmasken zum Beispiel ist der Mangel groß, weil die ganze Welt um diese Produkte konkurriert, bisweilen in Wild-West-Manier. Unsere Mitarbeiter strampeln sich hier ab, damit wir an diese Sachen rankommen, mit zunehmendem Erfolg, und sie so verteilen können, dass sie zuerst dort ankommen, wo sie am nötigsten gebraucht werden. Und dann müssen sie sich unentwegt anhören, sie seien unfähig. Das ist schwer erträglich und tut mir weh, vor allem für die Mitarbeiter.
Dieses extraordinäre Tempo darf nur im Ausnahmezustand angewendet wenden
Im Vergleich zum normalen Geschäft ist die Politik mit Rekordgeschwindigkeit unterwegs. Trotzdem geht es vielen nicht schnell genug, zum Beispiel bei den Soforthilfen. Geht es noch schneller?
Kretschmann: Ich wüsste nicht, wie wir das noch schneller machen könnten. Wir sind ja in einer Demokratie, da setzt man Regeln nicht einfach außer Kraft. Wir haben in Baden-Württemberg Stabsstrukturen geschaffen, die wir in der Flüchtlingskrise erfolgreich etabliert haben: Das Kabinett hat Befugnisse weitgehend an einen Lenkungskreis delegiert, dem die Amtschefs der Ministerien angehören. Wenn wir aber eine Rechtsverordnung machen, muss die vom Kabinett beschlossen werden. Man kann nicht regellos einfach Geld verteilen, wie der König, der die Goldstücke aus der Kutsche schmeißt. Auch da müssen Kriterien angelegt, gewisse Prüfungen beibehalten werden. Wir sind dabei schon sehr, sehr großzügig.
Zurzeit finden kaum parteipolitische Geplänkel statt. Könnte das die Wahrnehmung von Politik dauerhaft ändern?
Kretschmann: Man arbeitet konzentrierter, das ist richtig. In den Telefon- oder Videokonferenzen ist ein kontroverser Schlagabtausch ja schon aus technischen Gründen schwer. Aber es hat auch etwas Befremdliches. Ich will das nicht lange so haben. Zivilisierter Streit und Auseinandersetzung im Angesicht des anderen sind wichtig, um die Dinge richtig zu durchdenken und abzuwägen. Dieses extraordinäre Tempo darf nur im Ausnahmezustand angewendet wenden, sonst verfestigt man autoritäre Haltungen. Das wollen wir bitte nicht.
Schadet die Krise der Demokratie?
Kretschmann: Erst mal ist da die Sorge, ob wir schnell und entschlossen genug handeln. Die Leute dürfen nicht das Gefühl haben, dass das in einem Staat wie China besser gemacht wird. Das hätte für das Ansehen der Demokratie keine guten Folgen. Wir zeigen, dass auch eine sonst liberale Regierung hart durchgreifen kann, wenn es notwendig ist. Dass sich die 16 Bundesländer und die Bundesregierung in zwei Stunden auf scharfe Maßnahmen wie die Kontaktbeschränkungen geeinigt haben, ist schon eine gehörige Leistung. Die Leute spüren jetzt auch, was man sich mit Rechtspopulisten wie Viktor Orbán eingehandelt hat, wenn sie an der Spitze stehen. Sie merken, wie wichtig Besonnenheit beim entschlossenen Handeln ist, wie wichtig es ist, sich an Tatsachen zu halten. Insofern sehe ich erst mal die Demokratien in der Vorderhand. Wir arbeiten auf der Grundlage des Grundgesetzes, wenn wir in dieser Ausnahmesituation das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in den Vordergrund rücken und die Freizügigkeit drastisch einschränken. Entscheidend ist, dass die Eingriffe nach der Krise alle beseitigt werden. Das ist die Nagelprobe, ob die Demokratie unverletzt aus der Sache hervorgeht.
Inzwischen hat fast jeder Ministerpräsident seinen eigenen Virologen, die aber nicht immer derselben Ansicht sind. Wird das irgendwann zum großen Streit zwischen den Bundesländern führen?
Kretschmann: Auch ich habe ein Gremium geschaffen mit Epidemiologen, Virologen, Ärzten. Seitdem ich das habe, bin ich sicherer geworden, auch wenn ich mir letztlich selbst ein Urteil bilden muss. Informationen immer nur aus zweiter Hand zu bekommen, das war nicht gut. Im Zweifel aber halte auch ich mich an das Robert-Koch-Institut, das ja die Aufgabe hat, die unterschiedlichen wissenschaftlichen Meinungen zu bündeln oder auch zu sagen: Da können wir euch Politikern nicht helfen, das wissen wir selbst nicht. Es müssen schon sehr gute Gründe vorliegen, um davon abzuweichen, aber das kann im Einzelfall durchaus der Fall sein. Es herrschen eben nicht die Virologen, sondern es regieren die Politiker.
Für die Wirtschaft haben wir Schutzschirme in ungekannter Größe aufgespannt
Wenn die Verdopplungszeit der Fallzahlen schon am Gründonnerstag auf zwölf, vierzehn oder vielleicht sechzehn Tage steigt – wie schnell kann es passieren, dass dann die Menschen und die Wirtschaft rebellieren?
Kretschmann: Das sehe ich nicht – zumindest nicht in dem Zeitraum, den Sie gerade nennen. Natürlich ist uns bewusst: Je rigoroser die Maßnahmen sind, die epidemiologisch angezeigt sind, umso mehr schadet das der Wirtschaft und der Freiheitsliebe der Menschen. Für die Wirtschaft haben wir ja Schutzschirme in ungekannter Größe aufgespannt. Die Menschen kann man nur um eiserne Geduld bitten. Je länger das aber geht, desto härter wird der Abwägungsprozess. Wir werden uns deshalb nach Ostern vielleicht zum ersten Mal ernsthaft mit der Frage beschäftigen, wie es weitergehen kann. Aber das wird nicht nur von der Länge der Verdopplungszeit der Infektionen abhängen.
Sie halten es jetzt für zu früh, um über eine Exit-Strategie nachzudenken. Haben Sie Angst, dass die Bürger die bloße Diskussion als Signal der Entspannung missverstehen könnten?
Kretschmann: Wenn Entscheidungsträger über solche Strategien diskutieren, weckt das sofort die Hoffnung, dass sie diese auch umsetzen. Das ist aber nicht der wichtigste Grund. Bevor wir über Szenarien diskutieren, müssen die Randbedingungen klar sein. Wir müssen wissen: Wie viele Tests sind verfügbar, haben wir genug Bettenkapazitäten, Beatmungsgeräte und Schutzmasken? Welche Maßnahmen treffen wir, um eine zweite Welle in vielleicht noch größerem Ausmaß zu verhindern? Dafür ist es noch zu früh. Manches sagt sich leicht, ist aber hoch komplex. Wenn man zum Beispiel sagt: Jetzt lassen wir die Jungen raus und die Alten müssen wir besser schützen: Wir haben 20 Millionen Menschen, die über 65 sind. Wie wird das gemacht, wo ist das Personal, um das zu organisieren? Das sind alles Dinge, die man mitbedenken muss.
Sie haben mit der Aufnahme von Patienten aus dem Elsass ein starkes Zeichen für Solidarität in Europa gesetzt. Insgesamt spaltet die Corona-Krise aber die EU. Wird die Solidargemeinschaft Europa einen dauerhaften Schaden davontragen?
Kretschmann: Das ist eine große Sorge von mir, vielleicht ist es meine größte überhaupt in dieser Krise. Der Verlust der europäischen Solidarität könnte ein schwerer Kollateralschaden der Krise sein. Gerade dort, wo wir uns am nötigsten bräuchten, setzen die nationalen Reflexe wieder ein. Da kommt auch ein archaisches Moment hoch: Dass uns die eigenen Kinder näher sind als die der anderen. Das ist erst mal natürlich. Aber Zivilisation bedeutet, genau das zu überwinden, und es ist eine zentrale Aussage des Christentums, dass der Fremde auch mein Nächster ist. Gerade in der Not und in der Krise wäre das wichtig. Da sehen wir nicht gut aus. Beim Elsass hätte ich selbst nicht gedacht, dass die Grenze doch zurückkehrt. Zum Glück sind uns andere Länder gefolgt und haben ihrerseits auch schwerkranke Menschen aus dem Elsass und aus Italien aufgenommen. Aber natürlich hätte ich gerne noch mehr gemacht für unsere Nachbarn. Das ist eines der Dinge, die mich in dieser Krise am meisten bedrücken.
Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte hat in einer außergewöhnlichen Form an die deutsche Gesellschaft appelliert, doch bitte solidarischer zu helfen. Macht Deutschland zu wenig?
Kretschmann: Mich hat seine Ansprache sehr berührt. Und ich bin höchst irritiert, dass jetzt die Eurobond-Debatten aus anderen Zeiten einfach wiederholt werden. Es ist nicht die Zeit, jetzt alte Schuldendebatten noch einmal zu führen. Als ob das hier normale Zeiten wären. Wenn jetzt ein ganzes Land, ein EU-Gründungsland, durch das Virus in schweres Fahrwasser gerät, muss ganz anders gedacht werden.
Haben Sie das auch Angela Merkel schon mal gesagt?
Kretschmann: Nein. Aber ich werde das noch tun.
Die Fragen stellten Stefan Braun und Claudia Henzler
Quelle:
Das Interview erschien am 4. April 2020 in der Süddeutschen Zeitung.