Im Interview mit der Heilbronner Stimme mahnt Ministerpräsident Winfried Kretschmann weiter zur Vorsicht. Mit den weiteren Lockerungen käme es wieder mehr auf die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger an.
Heilbronner Stimme: Herr Ministerpräsident, viele Bürger werden aufatmen über die teilweise Rückkehr zur Normalität. Aber verträgt sich dieser Kurswechsel mit Ihrer Analyse der Corona-Gefahren?
Winfried Kretschmann: Von Aufatmen kann keine Rede sein. Das sehe ich überhaupt nicht so. Wir fangen mit Öffnungen von mehr Lebensbereichen an, weil die Infektionszahlen langsam runtergehen. Jetzt kommt es entscheidend auf die Eigenverantwortung der Bürger an. Das Öffnen der Gaststätten in der übernächsten Woche ist ein ziemliches Risiko. Das machen wir im Vertrauen, dass sich die Bürger in ihrer überwältigenden Anzahl weiter so diszipliniert und vernünftig verhalten wie bisher.
Auch in Ihrer Regierung haben etliche Minister dem Druck von Interessengruppen nachgegeben. Vermissen Sie da Standfestigkeit?
Kretschmann: Lobbyisten gehen immer auf ihre Minister zu. Jetzt hat das durch den hohen existenziellen Druck und enormen Stress in manchen Branchen noch mal andere Ausmaße. Deswegen braucht es einen, der auch mal auf der Bremse steht. Und das bin ich. Der Regierungschef muss auf alle Bereiche achten und kann deshalb nicht alles machen, was ein Minister von ihm will.
„Die Bayern sind ziemlich im Gleichschritt mit uns unterwegs“
War da mancher auf der Suche nach politischen Vorteilen?
Kretschmann: Wenn man denen nachgibt, für die man zuständig ist, erhofft man, dass das goutiert wird. Ich interpretiere da schon manches als der Versuch, einen kleinen politischen Geländegewinn zu erzielen. Im Großen und Ganzen ist es aber beieinander geblieben.
Na ja, unter den Ministerpräsidenten hat sich mancher schon sehr schnell vom Bremser zum Öffner gewandelt, zum Beispiel der Herr Söder.
Kretschmann: Ja, das ist so. Das lag aber nicht an Söder. Die Bayern sind hier ziemlich im Gleichschritt mit uns unterwegs. Das größte Problem entstand durch Sachsen-Anhalt. Die Regierung dort ließ Zusammenkünfte von fünf Menschen zu, ohne dass wir andere Ministerpräsidenten davon wussten. Das war ein gewaltiger Einschnitt. Natürlich muss man sehen, dass dort die Ansteckungszahlen sehr viel niedriger sind als in Baden-Württemberg oder Bayern. Aber das gemeinsame Agieren der Länder mit dem Bund hat den Maßnahmen, die wir getroffen haben doch viel Nachdruck verliehen. Da konnte niemand auf ein anderes Land verweisen und fragen, warum die mehr lockern als wir. Ich bedauere, dass das zwischen den Ländern ziemlich auseinandergelaufen ist. Damit muss man jetzt zurechtkommen.
Zu den offenen Punkten gehören die Grenzkontrollen. Sehen Sie da Handlungsbedarf?
Kretschmann: Das ist natürlich Bundesangelegenheit, aber da werden wir was tun. Im Grenzgebiet zur Schweiz konnten sich Paare nicht treffen. Zum Elsass gibt es das Problem, dass Pendler hier arbeiten, aber nicht hier einkaufen dürfen. Solche Sachen werden wir mit Sicherheit in Bälde lockern. Klar ist, dass zu Frankreich wieder mehr Grenzübergänge geöffnet werden.
„Jetzt kommt es auf die Eigenverantwortung der Menschen an“
Besonders Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen sind noch sehr eingeschränkt. Sind da Lockerungen möglich?
Kretschmann: Ja. Wenn strenge Hygiene- und Schutzmaßnahmen eingehalten werden, kann man da mehr öffnen. Wir müssen vorsichtig und Schritt für Schritt vorgehen, um hier nichts zu riskieren.
Können Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen zu Hause Kontakte pflegen?
Kretschmann: Wenn sie professionelle Masken tragen, ist das Risiko schon sehr niedrig. Ich will aber an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir nun vieles wieder möglich machen und keiner sicher weiß, wie sich das auswirkt. Nochmal: es kommt jetzt mehr denn je auf die Eigenverantwortung der Menschen an. Wenn jetzt alle alles was geht bis zum letzten auskosten wollen, überall an die Grenzen des Ermöglichten gehen, dann kann es gut sein, dass die Infektionszahlen in sechs oder sieben Wochen wieder hochschnellen und wir Lockerungen zurücknehmen müssen. Ob wir den Pfad der Lockerung weiterverfolgen können, liegt wirklich bei jedem und jeder einzelnen von uns.
Die Kanzlerin meint, die erste Phase der Pandemiebekämpfung sei abgehakt. Sehen Sie das auch so?
Kretschmann: Also so eine Pandemie hat nicht einfach zwei Hälften. Das ist nicht wie beim Fußball. Das Infektionsgeschehen bleibt immer fragil und wir sind weiterhin mitten in der Pandemie. Eine neue Phase hat die Ministerpräsidentenkonferenz eingeleitet durch die Einführung der Maßzahl für das Infektionsgeschehen auf Ebene der Stadt- und Landkreise. Wenn innerhalb von sieben Tagen 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner auftreten, müssen Beschränkungskonzepte erarbeitet werden. Läuft in einem Ort eine Infektionswelle hoch, wird im Extremfall das ganze Dorf zwei Wochen unter Quarantäne gestellt.
„Der Klimawandel wird sich nicht wegimpfen lassen“
Für die Autoindustrie wird eine Absatzprämie vorbereitet. Hätte man das nicht schneller machen müssen, weil Käufer jetzt auf den Zuschuss warten?
Kretschmann: Das ist das große Problem. Ich habe das in Berlin auch vorgebracht. Das muss man schnell machen, damit es nicht so geht wie bei der Prämie für Elektroautos. Die Einführung hat vier Monate gedauert und so lange haben die Leute gewartet. Ich hoffe, dass die Bundesregierung da schneller in die Pötte kommt als sie es vorhat. Sonst geht der Schuss nach hinten los. Es geht mir dabei übrigens nicht nur um die großen Autofirmen, sondern vor allem um die vielen Zulieferer im Land. Die brauchen die Hilfe wirklich dringend.
Ist das nicht ein Präzedenzfall für andere Branchen?
Kretschmann: Es geht um unsere letzte Kernbranche in Deutschland, die Konsumprodukte mit sehr hoher Wertschöpfung macht. In so einem kompakten Bereich hat ein Förderprogramm noch eine Hebelwirkung und strahlt auf andere Branchen aus. Die Automobilindustrie kann wie ein Antreiber im Mittelfeld im Fußball die Mannschaft mitnehmen. Wir müssen uns auch um andere Branchen kümmern. Die Krise könnte der Digitalisierung einen Schub geben. Den können wir mit gezielter Förderung nutzen, um vor allem die Gesundheitsbranche voranzubringen.
Auch die Politik muss mit dem Virus leben. Wann nimmt sie auch wieder andere Themen auf die Tagesordnung?
Kretschmann: Der Klimawandel steht für mich ganz oben. Das schöne Wetter beunruhigt mich. Kommt nach dem trockenen Frühjahr ein heißer Sommer, wird das zu erheblichen Ernteeinbußen für unsere Bauern führen und in unseren Wäldern eine Umweltkatastrophe auslösen. Das Virus hat die Klimakrise in den Hintergrund gedrängt, aber sie ist deshalb nicht verschwunden und schon gar nicht wird man die Klimakrise wegimpfen können.
Die Fragen stellte Peter Reinhardt
Quelle:
Das Interview erschien am 9. Mai 2020 in der Heilbronner Stimme.