Im Interview mit dem Badischen Tagblatt spricht Ministerpräsident Winfried Kretschmann über die Herausforderungen bei der Eindämmung der Corona-Pandemie und dem Abwägen zwischen den unterschiedlichen Interessen.
Badisches Tagblatt: Herr Kretschmann, Umfragen zeigen, dass in der Bevölkerung die Unzufriedenheit mit der Corona-Politik wächst. Haben die politisch wichtigsten Akteure, also die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten, bisher wirklich substanzielle Fehler gemacht?
Winfried Kretschmann: Es gibt in dieser Pandemie nicht den großen Masterplan, auch wenn wir das natürlich alle gerne hätten. Wir haben viel gelernt über das Virus, aber das Virus wandelt sich. Der Lernprozess endet nicht. Das bedeutet natürlich auch, dass alle mal Fehler machen: Die Wissenschaft muss Thesen revidieren, Erkenntnisse stellen sich als falsch heraus. Auch wir schlagen mal eine falsche Richtung ein und müssen Entscheidungen korrigieren auch wenn nach bestem Wissen entschieden wird.
Zum Beispiel die Entscheidung von Ende Oktober.
Kretschmann: Dieser Lockdown light hat das Virus nicht beeindruckt; es hat sich weiter und schnell ausgebreitet. Wir sind eine ganze Zeit lang hinterhergerannt, statt vor der Entwicklung zu sein. Schlimmer als ein Fehler ist es in so einer Krise aber, wenn man aus Angst vor einem Fehler nicht oder zu spät handelt. Die Corona-Pandemie ist schwieriger und umfassender als alle Krisen, die wir bisher kannten. Sie greift unmittelbar in den Alltag eines jeden Menschen ein es gibt echte Existenzängste, viele Familien sind an der Belastungsgrenze. Und die Pandemie geht jetzt schon mehr als ein Jahr. Die Kräfte sind aufgebraucht. Das ist ja mehr als verständlich.
Gilt das auch für die aufgeheizte Stimmung, in der nach einem Sündenbock gesucht und der im Zweifelsfall in der Politik gefunden wird?
Kretschmann: Wir haben in dieser Krise eine ganz neue Aufmerksamkeit für politische Entscheidungsfindungen. Wir erleben plötzlich, dass ein Thema alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft. Und das ist das Schwierige: Wir müssen diese unterschiedlichen Interessenlagen zusammenbringen. Die Empfehlungen der Virologen sind klar und haben bei der Pandemiebekämpfung Priorität. Aber als politische Entscheidungsträger müssen wir andere Überlegungen ebenfalls hören und abwägen: Die Juristen bewerten im Nachhinein, ob die Maßnahmen angemessen sind, die Unternehmen rufen nach Öffnungen, die Kultur- und Kreativwirtschaft braucht Perspektiven, Sozial- und Gesellschaftswissenschaftler warnen uns vor den Folgen von Vereinsamung und Isolierung. Das alles sind legitime und nachvollziehbare Interessen und Einwände, die bei unseren Entscheidungen auch eine Rolle spielen müssen.
Manche Äußerungen von Ihnen erwecken den Eindruck, dass gewisse Dinge in diesem Zusammenhang Sie auf die Palme bringen.
Kretschmann: Das ist der Vorwurf, dass wir uns an politischen Geländegewinnen orientieren. Die ganze Debatte um Team Öffnung und Team Vorsicht ist so nicht haltbar. In dieser Krise fühlen sich alle, die politische Verantwortung tragen sei es im Bund, in den Ländern oder in den Kommunen, dazu verpflichtet, dass wir die Pandemie so gut wie möglich bekämpfen. Wir alle fühlen eine Last, da ist kein Platz für Spielchen. Und dann gibt es da mal unterschiedliche Ansätze im Detail. Aber gegen den Vorwurf, es gehe um Profilierungsversuche oder Eitelkeiten, verwahre ich mich in aller Deutlichkeit.
Transportiert wird der aber immer auch in den Medien. Die spielen eine große Rolle im Umgang mit Corona. Wie sehen Sie die Aufgabe erfüllt?
Kretschmann: Wir merken ja in der politischen Kommunikation selbst, wie schwierig es ist, unsere Maßnahmen so darzustellen, dass sie nachvollziehbar sind und akzeptiert werden. Auch die Medien stehen ja vor der Mammutaufgabe, die unterschiedlichen Interessen und Meinungen abzubilden und einzuordnen. Mittlerweile sind Interviews mit Verantwortlichen schon aufgeladene Ereignisse mit einem Publikum, und Talk-Shows werden zum nationalen Event mit politischer Bedeutung. Es ist für alle ein schwieriger Balanceakt. Wo mein Verständnis aufhört, das sind die Durchstechereien aus den internen Runden. Dieser Liveticker aus den Bund-Länder-Schalten hat mit dazu beigetragen, dass wir an die Grenze der Entscheidungsfähigkeit gekommen sind. Da ist einfach kein offener Austausch mehr möglich, das hemmt die Debatte. Denn dieser Wettlauf um die exklusive Eilmeldung generiert eine unheilvolle Spirale. Und da sehe ich schon mindestens eine Mitverantwortung in der Pandemiebekämpfung.
Alle eint die Hoffnung, dass möglichst vieles bald wieder so ist wie früher?
Kretschmann: alles wieder so wie früher? Wollen wir das denn? Die Krise ist auch eine Chance, dass wir ein paar Weichen anders stellen. Ich habe vorgeschlagen, dass wir eine Enquete machen im Bund, um alles aufzuarbeiten. Es wäre fahrlässig, wenn wir einfach zur Tagesordnung übergehen. Das beste Beispiel sind Hochwasserkatastrophen: Sobald die Aufräumarbeiten erledigt sind, die Sandsäcke wieder weggeräumt und die Fassaden gestrichen, ist das Thema vergessen. Dann wird das nächste Haus ins Hochwassergebiet gebaut, und die Vorsorge-Vorkehrungen werden über Bord geworfen.
Die Fragen stellte Johanna Henkel-Waidhofer.
Quelle:
Das Interview erschien am 17. April 2021 im Badischen Tagblatt und wird hier mit freundlicher Genehmigung des Verlags ungekürzt wiedergegeben.