Das Kultusministerium hat einen Bericht zum Sachstand der Inklusion in Baden-Württemberg vorgelegt. Zwei Jahre nach der Verankerung der Inklusion im Schulgesetz bilanziert Kultusministerin Susanne Eisenmann darin den aktuellen Stand, benennt aber auch klar den Handlungsbedarf.
Kultusministerin Susanne Eisenmann hat den Abgeordneten des baden-württembergischen Landtags einen Sachstandsbericht der Landesregierung zur Inklusion übermittelt. Zwei Jahre nach der Verankerung der Inklusion im Schulgesetz bilanziert die Kultusministerin darin den aktuellen Stand, benennt aber auch klar den Handlungsbedarf. „Die Inklusion wurde in Baden-Württemberg erfolgreich etabliert. So haben die Eltern mehr Wahlmöglichkeiten erhalten. Es bleiben aber Herausforderungen, um die Qualität der inklusiven Bildungsangebote im Interesse der Schülerinnen und Schüler auf Dauer zu sichern. Unser Ziel muss der optimale Bildungserfolg der Kinder und Jugendlichen sein“, sagt Eisenmann.
Ein gestuftes System der Unterstützung
Seit der Änderung des Schulgesetzes 2015 stellt die Schulverwaltung für Schüler, die ein sonderpädagogisches Bildungsangebot benötigen, nicht mehr die Pflicht zum Besuch einer Sonderschule fest. Vielmehr geht es jetzt um das Recht auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot. Die Erziehungsberechtigten haben die Wahlmöglichkeit, ob dieser Anspruch an einer allgemeinen Schule oder an einem sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) erfüllt werden soll. Für die Kinder und Jugendlichen stehen in einem gestuften System der Unterstützung nun sonderpädagogische Bildungsangebote in drei Organisationsformen zur Auswahl:
- das inklusive Bildungsangebot an allgemeinen Schulen,
- die kooperative Organisationsform mit Klassen eines sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrums an einer allgemeinen Schule (früher: Außenklassen) und
- die sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (früher: Sonderschulen).
„Für uns stehen diese drei Organisationsformen gleichwertig nebeneinander. Indikator für den Erfolg der Inklusion ist nicht die Quote der inklusiv beschulten Schülerinnen und Schüler. Stattdessen gilt es, für die Kinder und Jugendlichen den bestmöglichen Bildungsweg zu finden, ohne die Beteiligten zu überfordern“, erklärt Kultusministerin Eisenmann. Ziel sei es, die individuellen Bedürfnisse und Ansprüche des Kindes und seiner Eltern mit den Angeboten und Möglichkeiten des Schulsystems in Einklang zu bringen. Nur im engen Zusammenwirken zwischen Eltern und Schulen, Schulverwaltung und außerschulischen Partnern sowie allgemeiner Pädagogik und Sonderpädagogik könne die Querschnittsaufgabe Inklusion gelingen.
Umsetzung der Inklusion seit der Verankerung im Schulgesetz
Seit der Verankerung der Inklusion im Schulgesetz haben die Verantwortlichen an den Schulen und in der Schulverwaltung Konzepte und Abläufe entwickelt, um die Idee der inklusiven Bildung praxistauglich zu machen. So haben die Staatlichen Schulämter mit den Bildungs- und Berufswegekonferenzen ein Verfahren entwickelt, um gemeinsam mit allen Beteiligten – dazu gehören Eltern, Schulträger, Eingliederungshilfe und Schülerbeförderung – ein passendes Bildungsangebot für das Kind zu finden und mögliche Hindernisse schon im Vorfeld zu klären. Auf Verwaltungsebene wurden unter anderem die einschlägigen Vorschriften an die neuen Erfordernisse angepasst. Auch in der Lehrerausbildung und der Lehrerfortbildung hat das Land auf die neuen Anforderungen reagiert: Angehende Lehrer lernen bereits an den Hochschulen die wissenschaftlichen und schulpraktischen Grundlagen der Inklusion kennen. Für bereits unterrichtende Lehrer hat das Land entsprechende Fortbildungsangebote geschaffen. Darüber hinaus stehen den Schulen an jedem Staatlichen Schulamt Praxisbegleiter für alle Schularten zur Fortbildung und Unterstützung zur Verfügung.
Die bei den Kommunen entstehenden Aufwendungen für Baukosten, Jugendhilfe, Eingliederungshilfe und Schülerbeförderung hat das Land mit rund 18 Millionen Euro im Schuljahr 2015/16 und rund 24 Millionen Euro im Schuljahr 2016/17 unterstützt.
Zahlen zur Inklusion in den Schulen
Im Schuljahr 2016/17 haben von rund 57.290 Schülerinnen und Schülern mit einem festgestellten Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot bereits rund 7.950 an einer allgemeinen Schule inklusiv gelernt (2015/16: 6.450). Rund 49.340 (2015/16: 49.180) Schülerinnen und Schüler besuchten ein öffentliches oder privates SBBZ, wobei etwa 3.230 (2015/16: 3.130) von ihnen in kooperativen Organisationsformen (früher Außenklassen) an einer allgemeinen Schule unterrichtet wurden.
Weitere 18.780 (2015/16: 19.220) Schülerinnen und Schüler ohne festgestellten Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot wurden an ihrer allgemeinen Schule durch den sonderpädagogischen Dienst beraten und unterstützt. Mit diesem Angebot können diese Kinder und Jugendlichen präventiv und niederschwellig unterstützt werden und weiterhin zielgleich lernen. Zielgleich bedeutet, diese Kinder streben den gleichen Schulabschluss an wie ihre Mitschüler.
Herausforderungen: Lehrkräfte, Gruppeninklusion, Schulentwicklung
Bereits am 27. März 2017 hatte sich Kultusministerin Eisenmann auf einer Fachkonferenz zur Inklusion mit allen Beteiligten über ihre Erfahrungen und den Verbesserungsbedarf bei der Inklusion ausgetauscht. Die Rückmeldungen zeigten deutlich, wie viel in relativ kurzer Zeit erreicht werden konnte. Zugleich wurde ersichtlich, wo die zukünftigen Herausforderungen liegen.
Zu den vorrangigen Aufgaben der nächsten Jahre gehört, zusätzliche sonderpädagogische Lehrkräfte zu gewinnen. Für den Ausbau der Inklusion geht die Schulverwaltung von einem Mehrbedarf von insgesamt 1.353 Lehrerstellen bis zum Schuljahr 2022/23 aus. Das Kultusministerium hat davon jeweils 200 neue Stellen in den Schuljahren 2015/16 und 2016/17 geschaffen. Im Schuljahr 2017/18 sind weitere 160 neue Stellen hinzugekommen. Um den besonderen Lehrerbedarf im Bereich der Sonderpädagogik sicherzustellen, hat das Land die Studienanfängerkapazitäten an den Pädagogischen Hochschulen deutlich erhöht (von 390 im Jahr 2015 auf 520 im Jahr 2017). Darüber hinaus werden künftig vermehrt Haupt- und Werkrealschullehrkräfte an SBBZ eingesetzt. In diesem Zuge werden 800 Haupt- und Werkrealschullehrer, die bereits jetzt an SBBZ unterrichten, sonderpädagogisch weiterqualifiziert. Für Haupt- und Werkrealschullehrer, die gegenwärtig noch an Haupt- und Werkrealschulen unterrichten, jedoch künftig an SBBZ eingesetzt werden, wird ab dem Wintersemester 2018/19 ein modifiziertes Aufbaustudium angeboten. Auf diese Weise können in den kommenden Jahren insgesamt 400 Haupt- und Werkrealschullehrer für den Einsatz an SBBZ qualifiziert werden.
Eine weitere Herausforderung besteht in der verstärkten Umsetzung der Gruppeninklusion. Aus pädagogischen und organisatorischen Gründen spricht vieles für Gruppenlösungen, bei denen mehrere Kinder mit Förderanspruch gemeinsam in einer Regelklasse unterrichtet werden. Werden diese Kinder, die sich von ihren Entwicklungsvoraussetzungen erheblich von den anderen Kindern der Klasse unterscheiden, hingegen auf mehrere Klassen verteilt, so müssen auch die für die sonderpädagogische Förderung dieser Kinder zur Verfügung stehenden Stunden auf mehrere Klassen verteilt werden. Dadurch wird das gemeinsame Lernen von Kindern mit vergleichbaren Entwicklungsvoraussetzungen erheblich eingeschränkt. Auch sind die Möglichkeiten, von den Unterrichtsthemen und Inhalten auf die Interessen dieser Kinder einzugehen, begrenzt. Die von den Eltern häufig gewünschte Einzelinklusion ist deshalb aus organisatorischen wie pädagogischen Gründen oft weder möglich noch sinnvoll. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund, dass die Zahl der Schüler mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot seit der schulgesetzlichen Verankerung der Inklusion stark angewachsen ist. Diese Entwicklung erklärt sich unter anderem durch den verlängerten Zeitraum, in dem ein sonderpädagogisches Bildungsangebot heute gegenüber der früheren Pflicht zum Besuch der Sonderschule besteht.
Regionale Schulentwicklung
Die Einrichtung inklusiver Bildungsangebote kann auch zu Veränderungen in der Angebotsstruktur bei den sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren führen. In der Schülerzahlentwicklung zeigt sich, dass in sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren mit Förderschwerpunkt Lernen Schülerzahlen zurückgehen, was Fragen zur Zukunft dieser Schulstandorte aufwirft. Vor diesem Hintergrund wird das Land einen Entwurf für eine Rechtsverordnung zur regionalen Schulentwicklung im Bereich der sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren erarbeiten. Dabei bleibt es unstrittig, dass die Eltern weiterhin eine Wahlmöglichkeit zwischen der allgemeinen Schule und dem sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum als Lernort haben und das jeweilige Bildungsangebot für ihr Kind auch erreichbar sein muss. Gleichermaßen müssen die Beratungs- und Unterstützungsangebote der sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren in allen Regionen verfügbar bleiben.
Inklusion ist langfristige Aufgabe
Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen zeigt sich, dass das Projekt eines inklusiven Bildungssystems eine langfristige Aufgabe ist, die noch erheblicher weiterer Anstrengungen bedarf, um die Qualität der inklusiven Bildungsangebote im Interesse der Schülerinnen und Schüler dauerhaft zu sichern. „Mit der schulgesetzlichen Verankerung hat die Inklusion erst begonnen“, sagt Kultusministerin Eisenmann in ihrer Zwischenbilanz. „Der Anfang ist gemacht. Gemeinsam mit den Partnern aus der Schulverwaltung, von der kommunalen Seite sowie der Zivilgesellschaft, aus Schule und Lehrerbildung bleibt unser Ziel klar. Wir wollen ein hochwertiges und zugleich leistungsfähiges gestuftes System der Hilfe umsetzen, das passgenau greift.“