Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist ein Mann, dem die Menschen zuhören. Im Interview mit dem Südkurier spricht er über die Macht von Worten und die völlige Humorlosigkeit der Rechtspopulisten.
Südkurier: Wachen Sie zurzeit morgens auch mit bangem Blick auf Nachrichten aus Übersee auf wie so manche Mitmenschen?
Winfried Kretschmann: Ja! Die Gedanken sind gleich da: Was kommt jetzt heute? Es ist wirklich beunruhigend.
Wir erleben auch bei uns eine Verschiebung von Wahrheit und Lüge. Was heißt das für die politische Kommunikation?
Kretschmann: Wir werden wieder auf Elementares zurückgeworfen: Wie spricht man in der Politik? Was sind Voraussetzungen von Politik? Das ist aus meiner Sicht die Wahrhaftigkeit, nicht zu verwechseln mit Wahrheit. Über naturwissenschaftliche Fakten, etwa dass die Erde keine Scheibe ist, wird niemand ernsthaft diskutieren. In der Politik geht es aber um das Streben nach Wahrhaftigkeit. Wir merken gerade wieder, wie wichtig es ist, Tatsachen wahrzunehmen und zu akzeptieren, auch wenn sie einem nicht gefallen. Das ist die Grundlage politischer Verständigung.
Trotzdem sind gefühlte Wahrheiten auf dem Vormarsch…
Kretschmann: Auf Gefühle können wir uns aber in der Politik nicht einigen, obwohl für uns Menschen nur von Bedeutung ist, was mit Gefühlen verbunden ist. Das ist etwas paradox. Denn in der Politik können wir uns nur über Vernunftsgründe verständigen, nicht über Glaubensfragen oder Empfindungen. Wer die Faktenebene boykottiert, verletzt die Spielregeln der Demokratie.
Ist mit der rauen Sprache in der öffentlichen Debatte auch unser Denken auf den Hund gekommen?
Kretschmann: So weit würde ich nicht gehen. Aber in der Tat erleben wir eine Verrohung und Verkürzung des politischen Diskurses. Der amerikanische Präsident führt das Twittern als Regierungsinformation ein. Das sind schon sehr bedenkliche Entwicklungen, aber denen kann und muss man entgegenwirken. In Demokratien, wo es immer um Verständigung, um Kompromissfindung gehen muss, bemüßigt man sich einer respektvollen Sprache, auch wenn man hart in der Sache ist. Respekt vor der Meinung und der Person des anderen, Respekt vor Institutionen - das ist überaus wichtig. Radikalisierung bis hin zum Fanatismus, der sich in der Sprache bemerkbar macht, ist nicht der Boden, auf dem Demokratie gedeiht. Sie beschädigt die Demokratie.
Verändert diese verrohte Sprache das Verständnis der Menschen von Politik?
Kretschmann: Richtig, aber das resultiert eben aus dem Bedürfnis nach Überschaubarkeit und Durchschaubarkeit in einer komplexer werdenden Welt. Das ist insofern ein Gegentrend zur Globalisierung. Wir alle wollen es überschaubar und einfach haben, das ist kein falsches Bedürfnis. Grundweisheiten der Menschheit sind auch einfach und verständlich: „Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg auch keinem anderen zu.“ Das muss der Kompass sein. Das geht aber nur, wenn wir das, was seit der Antike über Demokratie gesagt wurde, nicht einfach denunzieren, wie es Attacken gegen „das System“ tun. Donald Trump soll den Begriff „Demokratie“ in seinen Reden noch nie erwähnt haben. Das ist höchst bemerkenswert, denn ein Demokrat zu sein, Gesetze und Verfassung hochzuhalten, gehört quasi zur amerikanischen DNA. Insofern ist Trump ein Revolutionär: Er deutet Dinge einfach um – Stichwort alternative Fakten. Da ist nichts Konservatives an diesem Menschen. Dieses Beispiel zeigt: Zwischen konservativ und rechtspopulistisch gibt es einen Riesenunterschied. Vor extrem Konservativen habe ich, auch wenn ich deren Meinung nicht immer teile, Respekt. Vor Rechtspopulisten nicht.
Und die Unterscheidung gelingt Ihnen immer?
Kretschmann: Ein erkennbarer Unterschied ist Humor, denn Humor kann harte Worte weicher machen. Bei den Rechtspopulisten, auch bei Trump, Erdogan, Marine le Pen oder Frauke Petry kann man durch die Bank feststellen: völlige Humorlosigkeit! Nur wer selbstironisch sein oder etwas in Frage stellen kann, weiß, dass man eben nicht die Wahrheit gepachtet hat. Politische Witzchen gedeihen nicht von ungefähr vor allem in Diktaturen und autoritären Systemen, weil dieser Witz gefährlich ist.
Kein Witz ist: Wir erleben gerade harte semantische Kämpfe, etwa um den Begriff „Heimat“. Rechte nutzen ihn als politischen Begriff, Sie auch?
Kretschmann: Begriffe wie Heimat sind sehr diffuse Begriffe, denen man leicht neue Deutung verleihen kann. Der Wunsch beheimatet zu sein, ist an sich richtig und wichtig: Nur wenn man sich beheimatet und behaust fühlt, kann man sich sicher fühlen. Ich fühle mich beheimatet in Baden-Württemberg aber auch egal wo, wenn ich Mozart höre oder in eine Messe gehe. Der Kontext der Rechtspopulisten ist aber nun mal der Nationalismus. Wenn sie Heimat sagen, zielt das auf Abgrenzung gegenüber anderen, das ist etwas grundsätzlich anderes. Österreich hat gezeigt: Man kann etwas tun. Dort nahm Alexander van der Bellen den Heimatbegriff auf, den die Rechtspopulisten besetzt hatten, und füllte ihn anders. Das war ein starkes Signal.
Die Rede des AfD-Politikers Björn Höcke war ein rhetorisches Lehrstück auch wegen Formulierungen wie „unser liebes deutsches Vaterland“ oder „reine Vaterlandsliebe“. Was schimmert da durch?
Kretschmann: Björn Höcke ist einfach ein Rechtsradikaler und ein Nationalist. Das merkt man sofort. Seine Sprache erinnert an die Nazis. Der Versuch zu provozieren, gehört zur Strategie. Es ist eine Propagandasprache, die manipulieren will, die Sprache einer schlimmen Vergangenheit.
Wirkt die Sprache so stark, weil sie sorgsam erarbeitete Tabus schleift?
Kretschmann: Ja, die modernen Demokratien haben so etwas entwickelt wie politisch korrekte Sprache. Wir reden nicht mehr von Krüppeln, sondern von Behinderten. Das ist ein enormer Fortschritt, weil wir damit den Respekt vor diesen Menschen ausdrücken und ihre Würde beachten. Das Hauptansinnen der Rechtspopulisten ist es, dagegen zu kämpfen. Sie benutzen eine Sprache, die das Gleiche meint und doch etwas ganz anderes ausdrückt.
Es gibt die These, politische Korrektheit habe die Populisten erst gestärkt. War das so?
Kretschmann: Es ist wie bei allem im Leben: Man darf nichts übertreiben. Das haben wir aber teilweise getan. Um die Bezeichnung „Menschen mit Handicap“ zu verstehen, muss man schon mal wissen, was ein Handicap ist. Manche sagen sogar: ‚Wir sind alle behindert!‘ Das ist Unsinn. Ich kann beispielsweise nicht so gut Englisch, das ist in meinem Amt ein Handicap, also ein Nachteil. Aber deswegen bin ich nicht behindert. Das heißt: Sprache in der Gesellschaft braucht immer auch einen mittleren Raum, anders in der Kunst oder Literatur. In der Sphäre der Politik, wo es um Zusammenhalt geht, braucht man eine Sprache, die das Miteinander fördert und nicht sprengt.
Und das Publikum wendet sich gähnend oder wütend ab?
Kretschmann: Wenn Sprache auf Ausgleich aus ist, kann sie natürlich nicht so blumig oder interessant daher kommen. Politikerreden sind oft langweilig und voll von Plastikwörtern und gestanzten Phrasen, auch das ist vermeidbar, aber das ist allemal besser als extremistisch einzupeitschen. Sprache darf nicht verletzen. Respekt und Klarheit, das ist der mittlere Weg.
Haben diejenigen, die eine diskriminierungsfreie Sprache nutzen, verbale Gegenschläge selbst provoziert?
Kretschmann: Es gibt ein schönes Zitat von Karl Popper: „Jeder Intellektuelle hat eine ganz spezielle Verantwortung. Er hat das Privileg und die Gelegenheit zu studieren. Dafür schuldet er es seinen Mitmenschen, die Ergebnisse seines Studiums in der einfachsten und klarsten und bescheidensten Form darzustellen.“ Immer nur auf die anderen schimpfen, bringt nichts. Warum reden wir von Austeritäts- statt von Sparpolitik? Wir müssen schon schauen, dass die Menschen uns auch verstehen. Mein Deutschlehrer hat noch an den Rand geschrieben „vF“ – für vermeidbares Fremdwort. Auch ein gutes Beispiel ist Gender-Mainstreaming. Wer bitte versteht das? Der Philosoph Karl Jaspers hat definiert: „Das Menschsein fordert, dass es den Vorrang hat vor dem Geschlechtsein. Mann und Frau sind zuerst Menschen und dann erst Geschlecht.“ Das ist sehr klar. Damit verwende ich eine Sprache, auf die Rechtspopulisten nicht springen können mit ‚Gender-Wahn‘.
Dann trifft der Vorwurf der Rechtspopulisten ins Schwarze, die Elitezirkel bewegten sich in eigenen Sprachwelten?
Kretschmann: Die Kritik ist berechtigt, auch wenn es dazu keine Rechtspopulisten braucht. Jedes Milieu – Ärzte, Lehrer, Politiker – entwickelt seine Fachsprache. Es muss aber eine ständige Anstrengung sein für alle, verständlich zu bleiben. Wir sollten uns als Deutsche auch mal überlegen, ob wir die Bevölkerung mit immer neuen Anglizismen, also englischen Fremdwörtern, belästigen müssen. Es hat keinen Sinn, mit dem Finger nur auf die Rechtspopulisten und die Verrohung der Sprache zu zeigen. Wir müssen auch selbstkritisch fragen: Was steckt dahinter? Könnten es Sorgen sein, Gefühle von Fremdheit oder ist es nur Propaganda wie beim AfD-Politiker Höcke?
Das Unwort des Jahres 2016 war „Volksverräter”. Was sagt das über uns?
Kretschmann: Es ist der Versuch der Rechtsradikalen, die sich insbesondere bei der AfD tummeln, sich von den dunklen Kapiteln der deutschen Geschichte zu verabschieden. Dazu passt die Höcke-Rede, dazu passt der Antrag der AFD-Landtagsfraktion, statt Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus nur noch „allgemeine Orte der Geschichte“ zu bezuschussen. Dahinter steckt Politik. Von „Volksverrätern“ zu sprechen, zeugt von Ignoranz gegenüber dem Zivilisationsbruch der Nazis. Andernfalls würden derartige Nazi-Begriffe nicht verwendet.
Am Tag der Deutschen Einheit wurde sogar die Kanzlerin in Dresden mit solchen Hassparolen empfangen...
Kretschmann: Das hat mich ehrlich verstört. Ich war der Meinung, hinter den modernen Verfassungsstaat mit seinen Grundregeln können wir nicht mehr zurückfallen. An solch einem Fanatismus merkt man: Es gibt kein Ende der Geschichte. Wir müssen immer um diese zivilisatorischen Errungenschaften kämpfen. Schon US-Präsident Lincoln hat gesagt, wir Demokraten sollten uns immer an die gute Seite im Menschen wenden. Rechtspopulisten dagegen wenden sich an die schlechte Seite im Menschen, die in uns allen ist. Da geht es wirklich um Sprache: Welche Seite sprechen wir an?
Also beteiligen Sie sich bewusst am Wettbewerb um Begriffsdeutungen?
Kretschmann: Ja, Begriffe zu besetzen ist wichtig. Politik ist auch eine Kampfarena, in der man Sprache nutzt. Verständlich zu sprechen ist etwas, was ich seit Beginn meiner politischen Arbeit versuche. Da kommt mir der Lehrerberuf zugute: Vor Fünftklässlern müssen sie anders sprechen als vor einer dreizehnten Klasse, nämlich altersgemäß. Die Frage, ob meine Zuhörer das, was ich sage, überhaupt verstehen, ist mir zur zweiten Haut geworden. Man muss deshalb nicht in Kurzsätze verfallen wie Donald Trump.
Die Fragen stellte Gabriele Renz.
Quelle:
Das Interview ist am 11. Februar 2017 im Südkurier erschienen.