Interview

„Dialektsprecher nicht diskriminieren“

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Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei einem Interview in der Bibliothek des Staatsministeriums in Stuttgart (Bild: © dpa).

Das Staatsministerium veranstaltet – in dieser Form einmalig – eine Dialekttagung im Stuttgarter Neuen Schloss. Die Initiative dazu kommt von Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Im Interview mit den Stuttgarter Nachrichten erläutert er, warum ihm Mundart wichtig ist.

Stuttgarter Nachrichten: Herr Ministerpräsident, der Dialekt liegt Ihnen am Herzen, sagen Sie. Wie kommt’s?

Winfried Kretschmann: Ja, er liegt mir am Herzen. Ich bin geborener Schwabe, stamme aber nicht von Schwaben ab. Meine Eltern sind aus Ostpreußen geflüchtet. Ich war in unserer Familie der Erste, der Schwäbisch gesprochen hat. „Flüchtling“ war damals ein Schimpfwort. Jedenfalls ist der Dialekt die konsequenteste Form der Integration bei Kindern. Zu Hause haben wir Hochdeutsch gesprochen oder, besser gesagt, Standarddeutsch. Interessanterweise habe ich als junger Landtagsabgeordneter sehr viel stärker Standarddeutsch geredet. Heute schwätz ich viel schwäbischer wie früher.

Allgemein heißt es, der Dialekt sei auf dem Rückzug. Sie leben die gegenläufige Entwicklung vor.

Kretschmann: Genau (lacht).

Wo schwätzen Sie richtig Schwäbisch?

Kretschmann: Erst mal zu Hause mit meiner Frau. Und zwar total. Und dann natürlich, wenn ich im Dorf bin. Mein ältester Sohn ist ein richtiger Dialektsprecher, der zweite hat eine norddeutsche Frau, da ist es schon anders, und meine Tochter lebt in Schottland; die spricht immerhin kein Oxford-Englisch. Was mir auffällt, ist, wie gut viele Migranten Schwäbisch sprechen. Anders als die Norddeutschen. Die kriegt man nicht so leicht dazu.

Haben Sie wegen Ihres Dialekts je Nachteile gehabt?

Kretschmann: Nein, aber mein Sohn schon. Bei ihm stand mal im Zeugnis, dass er zu stark Dialekt spricht. Daran sieht man, Dialektsprecher sind tatsächlich diskriminiert worden, als sei Mundart etwas Minderwertiges. Das ist natürlich Quatsch, denn Dialekt steht für Mehrsprachigkeit. Man verwendet ihn situationsabhängig. Ich hab darüber mal mit dem ehemaligen sächsischen Ministerpräsidenten Tillich gesprochen. Der sagte mir, wenn mich meine Frau anruft, spreche ich automatisch sorbisch. Daran sieht man: Muttersprache wird je nach Lebenslage gesprochen.

Das zeigt sich auch in unserem Gespräch – wir unterhalten uns situativ auf Honoratiorenschwäbisch.

Kretschmann: Ja, und es käme auch niemand auf die Idee, eine Leichenrede oder eine feierliche Rede zu Europa auf Schwäbisch zu halten, weil der Dialekt das nicht hergibt. Er ist die Sprache des Alltags und nicht des religiösen oder politischen Pathos. Deshalb läuft der Dialektsprecher auch nicht so leicht Gefahr, Nationalist zu werden.

Von Ihnen stammt der Satz, Schwäbisch erleichtere manches – zum Beispiel Koalitionsverhandlungen. Haben Sie ein Beispiel?

Kretschmann: In der Politik redet man Standarddeutsch, selbst die Schweizer sprechen im Parlament keinen Dialekt. Wenn man dann in Koalitionsverhandlungen in den Dialekt übergeht, nimmt das sofort Schärfe, denn Dialekt erzeugt Vertrautheit, und wenn sich etwas hochschaukelt und man dann sagt „Spennet ihr jetzt älle“, bricht das der Kontroverse die Spitze.

Das erleichtert das Gespräch?

Kretschmann: Ja logisch, man kommt dann wieder auf die Ebene der normalen Menschen – weg von gesponnenen politischen Eskapaden. Diese Bodenhaftung ist wichtig.

Dialekt baut Brücken in der Politik?

Kretschmann: Absolut.

Trotzdem gibt es viele Vorurteile. Ist die Beobachtung richtig, dass Dialekt oft nicht als Ausdruck von Vielfalt gesehen wird, sondern von Einfalt?

Kretschmann: Leider ist das so. „Hannes und der Bürgermeister“ ist eine wunderbare Sendung, aber Dialekt ist nicht nur eine heimelige Form der Satire. Zurzeit ändert sich aber manches: Dialekt wird in der Werbung verwendet, und es gibt Mundartkünstler wie Dodokay, die dazu beitragen, dass der Dialekt plötzlich wieder als originell und attraktiv angesehen wird. Zu meiner Freude kehrt die Mundart auf intellektuell-humorvolle Weise zurück.

Die Hinwendung zum Regionalen wird als eine Gegenbewegung zur Globalisierung angesehen. Wo ist der Unterschied zwischen dem Interesse an Kleinräumigkeit und dem, was sich in aufkeimendem Nationalismus äußert?

Kretschmann: Nationalismus ist eng und schottet ab. Ich habe jüngst Jürgen Klinsmann in Kalifornien getroffen, der einerseits in seiner Stuttgarter Heimat verwurzelt ist und andererseits Weltläufigkeit verkörpert. Er bewegt sich in zwei verschiedenen Kulturen und arbeitet deren jeweilige Stärken heraus. Wenn ich in Kalifornien mit Jürgen Klinsmann spreche und er typisch schwäbisch „die, wo“ sagt, wird klar: Dialekt ist eine mobile Heimat.

„Heimat ist die Grundlage für Weltoffenheit“, haben Sie mal gesagt. Was meinen Sie damit?

Kretschmann: Nirgendwo tritt das deutlicher zutage als bei den schwäbischen Unternehmern. Die haben eine unglaubliche lokale Verwurzelung und sind standorttreu. Gleichzeitig sind sie Global Player mit Vertretungen in aller Welt. Nehmen Sie Kärcher-Chef Hartmut Jenner. Er ist wahrscheinlich die Hälfte des Jahres mit dem Flugzeug unterwegs. Und wenn man ihn beim VfB trifft, schwätzt er Schwäbisch. Das zeigt: Hier geht’s nicht um Folklore. Bodenständigkeit und Heimat sind etwas Wichtiges. Sie geben Sicherheit und Mut für Weltläufigkeit. Das ist vor allem bei den schwäbischen Familienunternehmen zu spüren. Ich denke an Berthold Leibinger, den jüngst verstorbenen früheren Trumpf-Chef. Er war ja wirklich ein Global Player, und trotzdem hat er seine Stuttgarter Stiftskirche geliebt. Beim ihm merkte man, dass immer auch an den eigenen Wurzeln gearbeitet wird.

An diesem Freitag veranstaltet das Staatsministerium erstmals eine Dialekt-Tagung. War das Ihre Idee?

Kretschmann: Ja.

Was bezwecken Sie damit?

Kretschmann: Sprache ist etwas Natürliches. Man kann sie nicht einfach steuern, und das sollte man auch nicht versuchen. Wenn der Dialekt verschwände, was ich nicht hoffe, können wir das nicht verhindern. Ich kann also keine Sprachpolitik machen. Mit dieser Tagung wollen wir aber erreichen, dass künftig keine Diskriminierung mehr stattfindet. Mir ist es wichtig, dass wir Mundart nicht negativ bewerten. Der Dialekt – ob Schwäbisch, Alemannisch, Fränkisch oder Kurpfälzisch – ist keine Schwundstufe der Standardsprache. Mundart steht für Vielfalt und ist etwas Wertvolles, genauso wertvoll wie die Vielfalt der Arten. Der Sprachforscher Max Weinreich, der sich mit dem Jiddischen beschäftigt hat, sagte mal: „Ein Dialekt ist eine Sprache ohne Flotte und Armee.“ Dem Dialekt fehlt also die Staatsmacht, der Rückhalt durch die Nation. Man kann es aber auch so verstehen: In der Hochsprache kommen Flotte und Armee hinzu – das ganze erhabene Zeugs also, das Pathos.

Dialekt hat demnach einen friedlichen Charakter?

Kretschmann: So ist es. Dialekte sind ein kultureller Reichtum. Und sie waren vor der Standardsprache da – so wie die Länder vor dem Bund da waren. Die Hochsprache ist ein Kunstprodukt, und der Dialekt so etwas wie die natürliche Zivilisation. Es ist die Sprache der kleinen Gemeinschaft, der Familie und Freundschaft. Eine wunderbare Sprache mit vielen Stärken – wenn auch nicht unbedingt dafür geeignet, seiner Liebsten eine pathetische Liebeserklärung zu machen.

Eine Schlussfolgerung könnte sein, in der Öffentlichkeit selbstbewusster mit dem Dialekt umzugehen – auch im Radio und im Fernsehen, wie das die Bayern tun.

Kretschmann: Da läuft bei uns ein bisschen was schief. Jedenfalls sollte man nicht „Baden-Wüattembeeeag“ sagen, wie es manche Sprecher beim Südwestrundfunk nicht Hochdeutsch, sondern sogar Norddeutsch tun. Was die Bayern betrifft: Die gehen mit ihrer Sprache anders um. Sie sind generell etwas großspuriger unterwegs, und sie haben eine andere politische Liturgie, abgeleitet aus 700 Jahren Wittelsbacher und der CSU. Morgens sind sie obrigkeitsgläubig, abends anarchistisch, dann kommt noch der Ludwig II. dazu und die ganze Folklore. Im Ergebnis prahlen die Bayern immer ein wenig. Wir wollen nicht angeben. Das müssen wir vielleicht ein bisschen ändern.

Warum das?

Kretschmann: Unsere Image-Kampagne „Wir können alles. Außer Hochdeutsch“ war national sehr gut, aber sie wirkt nicht mehr nach außen. Wir müssen aufhören, anderswo in der Welt immer nur vom „Ländle“ zu reden, und müssen – leider – etwas mehr Selbstbewusstsein verkörpern. Wir brauchen international ein anderes Auftreten. Es bleibt aber charakteristisch, dass sich die Schwaben selbst nicht so ernst nehmen wie die Bayern.

Welcher schwäbische Ausdruck hat’s Ihnen besonders angetan?

Kretschmann: „Hälenga“!

Den Bayern würde das nicht einfallen.

Kretschmann: Genau. Dieses Wort drückt auch etwas von unserem Charakter aus. Nach hiesigem Selbstverständnis muss man nicht immer angeben und alles vor sich hertragen. Es langt auch, wenn man hälenga reich ist, deshalb ist man ja nicht ärmer.

Die Fragen stellte Jan Sellner.

Pressemitteilung: Tagung „Daheim schwätzen die Leut'“

Quelle:

Das Interview erschien am 5. Dezember 2018 in den Stuttgarter Nachrichten.