Im Interview mit der Zeitschrift nemo spricht Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut von einem Paradigmenwechsel in der Mobilität. Das Produkt Automobil entwickele sich immer mehr zur Dienstleistung Mobilität. Ihrer Ansicht nach sei die Region gut auf diesen Strukturwandel vorbereitet.
nemo: Frau Ministerin, aus Sorge vor dem sich abzeichnenden Umbruch in der Automobilindustrie haben Sie die Initiative ergriffen und Gespräche mit Autokonzernen und Zulieferern angekündigt. Ist die Lage so ernst?
Hoffmeister-Kraut: Dem liegt keine Sorge zugrunde, sondern Voraussicht. Die Fahrzeugindustrie mit Zulieferern, Komponenten- und Fahrzeugherstellern nimmt in Baden-Württemberg eine Schlüsselrolle ein. Ungefähr jeder fünfte Arbeitsplatz im Land hängt direkt oder indirekt daran. Der Strukturwandel, der sich für die Branche abzeichnet, ist eine Herausforderung, die man nicht fürchten muss, aber auch nicht unterschätzen darf. Hier wird die Wirtschaft im eigenen Interesse natürlich auch selbst aktiv. Die Politik muss aber gerade den – vor allem kleinen und mittleren – Unternehmen zur Seite stehen, die aufgrund ihrer Größe vielleicht nicht die Kapazitäten haben, um den Wandel zeitnah strategisch anzupacken. Und dies muss im Gleichklang mit der Wirtschaft erfolgen.
Deshalb möchte ich diesen tiefgreifenden Transformationsprozess im engen Dialog und durch ein miteinander abgestimmtes Vorgehen erfolgreich bewältigen helfen. Wir werden daher einen landesweiten Transformationsbeirat der Automobilindustrie einrichten, der von meinem Ministerium aus koordiniert wird. Er soll Strategien dafür aufzeigen, wie man mit der Veränderung von Beschäftigungspotentialen und Wertschöpfungsketten umgeht. Vor allem auch dafür, welche neuen Anforderungen der Transfer zu anderen Antriebsformen und neuen Mobilitätsdienstleistungen an die Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellt.
Detroit war bis Mitte des 20. Jahrhunderts die bedeutendste Industriestadt der Welt und stolze Wiege der Autoindustrie. Die drei großen US-Autobauer General Motors, Ford und Chrysler produzierten an diesem Ort Fahrzeuge für die Welt, viele Zulieferer siedelten sich in einer Stadt an. Davon ist heute nicht mehr viel übrig. Könnte der Autoregion Stuttgart ein ähnliches Schicksal drohen wie der einstigen „Motor-City“ Detroit?
Hoffmeister-Kraut: Ich sehe hier keine Parallelen. Zum einen ist die Region Stuttgart wirtschaftlich viel breiter aufgestellt. Zum anderen wurden in Detroit Trends verschlafen. Diese Gefahr sehe ich bei uns nicht.
Woran machen Sie das fest?
Hoffmeister-Kraut: Wir sind Innovationsregion Nummer Eins in Europa: Baden-Württemberg hat mit 4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts den höchsten Anteil an Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Der größte Teil dieser Ausgaben wird von der Wirtschaft getätigt. Und fast die Hälfte aller Aufwendungen der Industrie für Forschung und Entwicklung in Baden-Württemberg wird im Automobilbereich getätigt. Für stete Innovation, um eben keine Trends zu verschlafen. Zwei dieser Trends betreffen die Zukunft der Mobilität. Auf der einen Seite mit dem Übergang zu neuen Antriebsformen, auf der anderen Seite mit neuen Mobilitätssystemen und -plattformen, die von der Digitalisierung getrieben sind.
Ein maßgeblicher Anteil der Arbeitsplätze und auch die Wertschöpfung in der Automobilindustrie hängen heute noch direkt und indirekt am Verbrennungsmotor. Bei den Herstellern, aber vor allem auch bei den Zulieferern. Wirtschaft und Politik haben die aktuellen Herausforderungen erkannt und darauf reagiert. Bei den neuen Mobilitätssystemen, beim assistierten und autonomen Fahren, sind unsere Unternehmen sehr gut aufgestellt. Bei den neuen Antriebsformen hat die deutsche Industrie vielleicht ein wenig gezögert, ist aber inzwischen mitten im Thema. Das Innovieren liegt in den Genen unserer Unternehmen in Baden-Württemberg. Wandel kommt hier schnell an, wird aufgegriffen und als Chance begriffen.
Unsere Fahrzeugindustrie treibt die Entwicklung der Elektromobilität mit großem Engagement voran. Die Hersteller in Baden-Württemberg etablieren dafür extra neue Marken, planen Investitionen und Stellenzuwächse in Entwicklung und Produktion. Dieses Engagement wird bei einer Zunahme an Fahrzeugmodellen und verkauften Stückzahlen weiter zunehmen. Hier ist jetzt die Akzeptanz am Markt gefragt.
In Städten wollen viele junge Menschen heute kein Auto mehr besitzen, stattdessen nutzen sie ihr Smartphone, um die jeweils passende Option zu wählen. Heute Bahn, morgen car2go, übermorgen Fahrrad. Es wächst, zumindest in den urbanen Räumen, eine Generation heran, die multimodal unterwegs ist. Macht Ihnen das Sorge?
Hoffmeister-Kraut: In der Mobilität erleben wir gerade einen Paradigmenwechsel vom „Produkt Automobil” zur „Dienstleistung Mobilität”. Es geht nicht mehr nur um ein Fahrzeug, möglichst das eigene, sondern um vieles darum herum: Services, Konnektivität, Plattformen, intelligente Parkoptionen und vieles mehr. Hier steckt viel Digitalisierung drin. Es geht um neue Anwendungen, neue Geschäftsmodelle an den Kunden-Lieferanten-Schnittstellen. Insbesondere an diesen Schnittstellen bestehen besonders hohe Wertschöpfungspotenziale.
Unsere Fahrzeugindustrie treibt diese Entwicklungen massiv voran. Nehmen Sie als Beispiel die Daimler AG, die mit den Marken und Services von Car2Go und Moovel zu den Pionieren bei kommerziellen Geschäftsmodellen für neue Mobilitätslösungen zählt. Das Bedürfnis nach individueller Mobilität und das damit zusammenhängende Gefühl von Freiheit werden meiner Meinung nach sehr groß bleiben. Das schafft Geschäftsmodelle und Optionen für die Zukunft, selbst wenn sie anders aussehen, als wir es heute gewohnt sind.
Der Wettbewerb dürfte in naher Zukunft jedenfalls härter werden. Es drängen neue Player auf den Markt, Stichwort Tesla, und nach Ansicht von Experten könnten in der Automobilindustrie nicht nur durch die fortschreitende Automatisierung viele Jobs wegfallen, sondern schlicht auch deshalb, weil zur Produktion von Elektrofahrzeugen deutlich weniger Arbeiter eingesetzt werden müssen.
Hoffmeister-Kraut: Ob neue Player wie Tesla am Ende wirtschaftlich erfolgreich sind und langen Atem beweisen können, weiß man noch nicht. Die Frage, welche und wie viele Arbeitsplätze nach dem Strukturwandel erhalten bleiben, kann heute niemand seriös beantworten.
Da sind jetzt viele Mitarbeiter der Autoindustrie gespannt...
Hoffmeister-Kraut: Wenn man ausschließlich den Antriebsstrang betrachtet, ist die Annahme, dass der Personalbedarf in einer elektromobilen Welt geringer ist, sicher richtig. Der Strukturwandel wird aber ein längerer Prozess sein, da bricht nichts über Nacht weg. Die Branche muss jetzt die Weichen richtig stellen, hat aber genug Zeit, die traditionellen Geschäftsmodelle zu hinterfragen, zu reformieren, Technologiekompetenzen gezielt auszubauen und dabei die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entsprechend mitzunehmen.
Und für die kommenden Jahre gehen die meisten Experten aufgrund des wachsenden Weltmarktes sogar von einem Wachstum der Branche im Bereich der konventionellen Technologien aus. Dazu kommen die Beschäftigungspotenziale in den neuen Technologien und Geschäftsfeldern. Vernetzte und automatisierte Fahrzeuge der Zukunft werden an Komplexität zunehmen. Und genau hierin liegt doch unsere Stärke. Ich traue unseren Unternehmen genug Erfindergeist und Kreativität zu, um das jeweils passende Geschäftsfeld für sich zu finden, entwickeln und etablieren zu können.
Die Jobs werden sich also wandeln, aber ich bin sicher, dass wir sie hier in Baden-Württemberg und in der Region Stuttgart halten und neue schaffen können. Wir haben eine sehr gute Ausgangsposition dafür.
Mit Vollgas in die neue Welt – das ist die Zukunft. Die aktuelle Realität ist, dass voraussichtlich im nächsten Jahr in der Landeshauptstadt Fahrverbote für Dieselautos drohen, die nicht die Euro-6-Norm erfüllen?
Hoffmeister-Kraut: Ob die Fahrverbote wirklich kommen, wird sich zeigen. Der Ministerpräsident hat dies angesichts der aktuellen Diskussion um mögliche Nachrüstungen ja selbst bereits wieder in Frage gestellt. Ich selbst habe größtmögliche Ausnahmeregelungen für den Wirtschaftsverkehr sowie für betroffene Anwohner gefordert.
Ich wünsche mir in diesem Zusammenhang ein Ende des oftmals unsachlichen Diesel-Bashings. Das schadet dem Standort, den Firmen und den Arbeitnehmern. Wir benötigen keine Schuldzuweisungen, sondern einen konstruktiven Dialog, um die Auto-Emissions-Debatte zu versachlichen und neben den Belangen von Umwelt und Nachhaltigkeit auch unserer Verantwortung für die Beschäftigten im Land und für eine zukunftsfähige Industrie gerecht zu werden.
Sie läuten also nicht das Totenglöckchen für den Diesel?
Hoffmeister-Kraut: Ganz und gar nicht. RDE-fähige Dieselfahrzeuge der Euro-6-Klasse – also Diesel, deren Abgase im Realbetrieb gemessen werden – sind zukunftsfähige Fahrzeuge, die noch viele Jahre ein fester Bestandteil auch der urbanen Mobilität sein werden und gleichzeitig einen wesentlichen Beitrag zur Luftreinhaltung leisten. Bereits heute sind solche Motoren am Markt erhältlich.
Außerdem entwickelt und produziert unsere Fahrzeugindustrie nicht nur für Deutschland oder Europa, sondern bedient einen weltweiten Markt. In zahlreichen Ländern wird der Verbrennungsmotor, also auch der Diesel, noch lange Zeit eine wichtige Rolle spielen. Dort ist man weit entfernt von Gedanken an Elektromobilität, wenn nicht einmal Städte, Häuser oder auch Unternehmen ausreichend mit Strom versorgt werden können.
Wenn also weiter viele Baden-Württemberger mit dem Diesel unterwegs sind und der Trend zum Auto weiter anhält, stellt sich die Frage, wie Städte und Ballungsräume künftig mit dem Verkehr umgehen sollen? Es soll Menschen in der Region Stuttgart geben, die ihre morgendliche Fahrt ins Büro mit einem Stoßgebet beginnen. „Bitte keinen langen Stau!“ Leider hält sich der Beistand von oben in der Praxis eher in Grenzen.
Hoffmeister-Kraut: Es besteht eindeutig Handlungsbedarf. Lange Staus belasten nicht nur die Nerven der Bürgerinnen und Bürger, sie verursachen auch einen volkswirtschaftlichen Schaden. Es braucht umfangreiche Angebote, die ausreichend attraktiv sind. Dazu gehören eine intelligente und noch bessere Verkehrssteuerung genauso dazu wie der verstärkte Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, der Straßeninfrastruktur oder des Car-Sharings. Um die Mobilität der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, helfen Diskussionen über Verkehrsbeschränkungen wie zum Beispiel Einfahrverbote oder eine City-Maut nicht weiter.
Bisher hat die Grün dominierte Politik vor allem darauf gesetzt, dass die Menschen selber umsteigen, wenn es eine Feinstaubwarnung gibt. Leider hatte dies nicht die gewünschte Wirkung.
Hoffmeister-Kraut: Die Luftreinhalteproblematik in Stuttgart ist nach meinem Empfinden bei den Bürgerinnen und Bürgern sehr wohl angekommen. Aber man darf das Bedürfnis nach Individualverkehr der Menschen nicht unterschätzen. Damit ein Umstieg auf alternative Mobilitätsangebote also eine echte Alternative wird, müssen diese noch wesentlich verbessert werden. Wenn ich als Berufspendler davon ausgehen muss, dass ich mit der S-Bahn noch länger brauche als ohnehin mit dem Auto, werde ich mit Sicherheit nicht umsteigen. Der ÖPNV muss weiterentwickelt und auch preislich attraktiver gestaltet werden.
Sie fahren vermutlich noch selbst oder werden gefahren. Haben Sie Angst vor dem autonomen Fahren?
Hoffmeister-Kraut: Nein, Angst ist auch ein schlechter Ratgeber. Ich sehe hier große Chancen für unsere Automobilindustrie. Aktuelle Umfragen zeigen aber, dass zwei von drei Befragten der neuen Technologie tatsächlich eher skeptisch gegenüberstehen. Vor allem wegen der Furcht vor Unfällen.
Aber automatisiertes Fahren ist ja nicht gleich automatisiertes Fahren. Fahrzeuge sind schon heute in der Lage, durch teilautomatisierte oder automatisierte Fahrfunktionen den Fahrer zu entlasten und in kritischen Situationen zu unterstützen – oder solche Situationen ganz zu vermeiden. Gleichzeitig wird sich auch das Erlebnis Fahren über neue Komfortfunktionen verändern. Ich bin in diesem Zusammenhang daher sehr neugierig darauf, wie die Mobilität der Zukunft tatsächlich aussehen wird.
Bis zum vollautonomen Fahren wird es noch eine Weile dauern – genügend Zeit also für unsere Hersteller, um diese Technologien sicher und ausgereift anzubieten und für die Menschen, sich daran zu gewöhnen. Die interessante Frage ist aber, ob wir letztlich vollautonom fahren wollen oder es nur für bestimmte Einsatzgebiete nutzen werden. Aktiv fahren macht ja auch viel Spaß und leistet für viele Menschen einen wichtigen Beitrag zu ihrer Unabhängigkeit und Eigenständigkeit.
In anderen Ballungsräumen wie in Kopenhagen, aber auch in Paris, New York und London wird viel getan, um ein lebenswerteres Gemeinwesen zu schaffen. Autos haben dort oft einen schweren Stand. Gehört der autofreien Stadt die Zukunft?
Hoffmeister-Kraut: Motorisierten Individualverkehr wird es auch weiterhin geben, alles andere wäre realitätsfremd. Gerade in großen Städten und Ballungsräumen verliert das eigene Auto aber für viele zunehmend an Bedeutung. Aus meiner Sicht sind es zukünftig viele Elemente, die das Bild der modernen Mobilität in unseren Städten ergeben: eine Stadtstruktur mit kurzen Wegen, ein sinnvoller Mix aus Fuß- und Radverkehr, flexiblem öffentlichem Verkehr, Sharing-Angeboten, Fahrten mit dem eigenen Pkw und ein effizienter Wirtschaftsverkehr – alles sinnvoll miteinander ergänzt und verknüpft.
Das Gespräch führte Michael Ohnewald.
Quelle:
Das Interview erschien am 12. Juli 2017 im Magazin nemo – Neue Mobilität in der Region Stuttgart.