Im Interview mit der Heilbronner Stimme zieht Ministerpräsident Winfried Kretschmann eine erste Zwischenbilanz der Regeriungskoalition und erklärt, warum er bei einem Autogipfel Politik, Wirtschaft und Wissenschaft an einen Tisch bringen will.
Herr Ministerpräsident, vor einem Jahr steuerten die Koalitionsverhandlungen mit der CDU auf den Höhepunkt zu. Wie sieht Ihre Zwischenbilanz heute aus?
Winfried Kretschmann: Dafür, dass wir uns nicht gesucht haben, sondern uns finden mussten, hat es sich gut entwickelt. Das Klima verbessert sich beim Regieren. Wir erreichen eigentlich immer Kompromisse, selbst in schwierigen Fragen wie dem Luftreinhalteplan für Stuttgart. Wir packen auch konträre Themen an, wie zum Beispiel die Qualitätsprobleme in den Schulen.
Am Sonntag findet in der Türkei das Referendum statt. Ist nicht etwas schief gelaufen, wenn Türken in Deutschland die Freiheit nutzen und trotzdem in der alten Heimat für ein autokratisches System werben?
Kretschmann: Absolut. Da ist was schief gelaufen. Bis zu einem bestimmten Grad sind die Menschen ganz gut integriert. Aber das reicht nicht. Wir müssen uns selbstkritisch fragen, warum wir unter Polizisten und Lehrern so wenig Migranten haben. Da existieren unsichtbare Schwellen. Das gilt auch bei der Integration in unsere freiheitliche Rechtsordnung. Bei diesem Grundkonsens kann niemand Rabatte erwarten. Wir müssen in Zukunft darauf achten, dass die Menschen auch in unserer freiheitlichen-demokratischen Grundordnung integriert sind. Gleichzeitig dürfen sie natürlich ihre Religion behalten und ihre Sprache pflegen.
Umgekehrt haben viele Deutsche den Eindruck, dass die Zuwanderer hier nicht angekommen sind.
Kretschmann: Unsere frühere Integrationsministerin Bilkay Öney hat die Migranten immer aufgefordert, sich nicht in die Opferhaltung zu begeben. Wer sich anstrengt, kann es hier zu was bringen. Wichtig ist, dass wir fördern und fordern. Es gibt Chancen hier, aber die Migranten müssen sich auch anstrengen. Umgekehrt ist es auch anstrengend für die Gesellschaft, die aufnimmt. Und wir dürfen nicht vergessen, bei der Anerkennung unserer Rechtsordnung geht es nicht nur um Zuwanderer: Der AfD-Politiker Höcke ist auch nicht in unser demokratisches System integriert. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich wieder mal für den liberalen Verfassungsstaat kämpfen muss.
Das Zukunftsthema ist der Wandel der Autoindustrie. Ist es grüne Politik, dieser aus der Patsche zu helfen?
Kretschmann: Ich helfe gerade, weil die Unternehmen schwere Fehler gemacht haben, die aber das Ansehen der ganzen deutschen Industrie betreffen. Es ist ein großer Kollateralschaden, wie hier das Vertrauen in das „Made in Germany“ beschädigt wurde. Politik ist keine pädagogische Veranstaltung, deshalb kümmere ich mich aus sehr rationalen Gründen darum. Weil der Umstieg auf Elektromobilität Arbeitsplätze betrifft, müssen wir den Wandel so gestalten, dass die Branche wettbewerbsfähig bleibt. Dazu kommt, dass es nicht nur um EMobilität, sondern auch um autonomes Fahren und die Vernetzung der Verkehrsträger geht. Das Automobil wird ja gewissermaßen noch einmal neu erfunden.
Hat die Bundesregierung diese Herausforderung wahrgenommen?
Kretschmann: Die Bundesregierung ist ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. Sie hat sich vier Jahre lang mit der höchst fragwürdigen Ausländermaut beschäftigt und sich dadurch viel zu wenig um die tragenden Fragen der Mobilität gekümmert. Wir müssen uns den entscheidenden Dingen zuwenden. Der Autogipfel im Land wurde auf den 19. Mai verschoben.
Warum klappt es nicht am 24. April?
Kretschmann: Das sind rein terminliche Gründe. Das Interesse aller beteiligten Akteure ist enorm.
Warum dauert die Umsetzung neuer Strategien hier immer so lange?
Kretschmann: Ich beklage das auch. Helmut Schmidt sagte schon: „Das Tempo der Demokratie ist das Schneckentempo.“ Beim Autogipfel soll ein Format geschaffen werden, das alle Akteure des Verkehrs aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft in einer Plattform zusammenbringt, damit der jeweils nächste Schritt in Gang gesetzt wird.
Lassen Sie uns noch über Fußball reden. Die Fans machen Züge kaputt, prügeln sich und zünden Pyrotechnik. Alles zu besichtigen beim Derby des VfB Stuttgart gegen den Karlsruher SC. Sollte man jetzt endlich die Vereine zur Kasse bitten?
Kretschmann: Die Debatte hatten wir schon einmal vor ein paar Jahren, aber ich sehe, dass wir uns jetzt damit neu befassen müssen. Ich will da jetzt keine schnellen Antworten geben, aber so kann das nicht weitergehen. Der Aufwand nimmt Ausmaße an, die nicht mehr gehen. Die Fragen richten sich an die Vereine, aber nicht nur. Auch hier sehe ich eine mangelhafte Integration. Wir müssen genauer prüfen, warum die Phänomene so um sich greifen.
Die Vereine reagieren eher weich, weil sie die „harten“ Fans für die Stimmung in den Stadien brauchen.
Kretschmann: Das ist der neuralgische Punkt. Der Fußball braucht die Fans. Aber wie hält man die Emotion so im Zaum, dass sich Gefühle nicht verselbständigen? Damit müssen wir uns ernsthaft beschäftigen. Eine höchst virulente Baustelle. Wir müssen da was machen. Denken Sie nur an die 100.000 Euro Schäden in Zügen nach dem Spiel Stuttgart gegen Karlsruhe.
Werden Sie das Gespräch suchen?
Kretschmann: Ja, die Regierung wird mit den Vereinen sprechen. Fußball bindet jedes Wochenende riesige Polizeikräfte. Ich bin ein liberaler Mensch. Aber Hyper-Liberalismus führt in solche Zustände, wie wir sie da beobachten. Auch da gilt fördern und fordern.
Die Fragen stellten Michael Schwarz und Peter Reinhardt
Quelle:
Das Interview erschien am 13. April 2017 in der Heilbronner Stimme und im Südkurier und wird hier leicht gekürzt wiedergegeben.