Im Interview mit der Nürtinger Zeitung macht Ministerpräsident Winfried Kretschmann deutlich, wie wichtig es sei, dass die deutsche Automobilindusrie bei neuen Mobilitätskonzepten nicht den Anschluss verliert. Außerdem zeigt er sich zuversichtlich, dass das Bahnprojekt Große Wendlinger Kurve realisiert wird.
Nürtinger Zeitung: Ein großes Thema im Land ist das drohende Fahrverbot für Stuttgart. Wird die Landesregierung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtes Berufung einlegen?
Winfried Kretschmann: Fahrverbote wollen wir vermeiden. Die Frage ist, ob wir es können. Das ist auch von den Gerichten abhängig. Die Frage, ob wir in Berufung gehen oder was wir machen, ist in keiner Weise entschieden. Wir haben ja noch nicht einmal die schriftliche Begründung des Urteils. Erst wenn die vorliegt, müssen wir sie sorgfältig bewerten und dann entscheiden, was wir machen. Es ist wirklich noch gar nichts entschieden.
Hängt die ausstehende Entscheidung mit dem Bundestagswahltermin zusammen?
Kretschmann: Nein, wir bestimmen ja die Termine nicht. Dass jetzt die schriftliche Begründung immer noch nicht vorliegt, ist ja keine Kritik. Das ist einfach so. Schon die Frage, ob wir zuständig sind, ist juristisch hoch umstritten. Es sind schwierige Fragen und die muss man sorgfältig erörtern. Wahltermin hin, Wahltermin her. Auf die schriftliche Begründung zu warten ist ja wohl das Minimum an Seriosität.
Der Anwalt der Umwelthilfe wirft der Regierung vor, dass ihr der Gesundheitsschutz nichts wert sei.
Kretschmann: Mit solchen Vorwürfen muss man leben, auch wenn sie abwegig sind. Man muss sehen, die Luft wird ja jedes Jahr besser, aber eben nicht schnell genug. Die Versäumnisse und Fehler der Vergangenheit sind so gravierend, dass es sehr schwer ist, das Problem schnell zu lösen. Die EU hat uns Grenzwerte vorgegeben, zugleich jedoch mit tätiger Hilfe der Bundesregierung viele Nischen und Ausnahmen eingebaut, die maximal ausgenutzt wurden durch die Automobilunternehmen. Denken Sie an die berüchtigten Thermofenster, oder die Laborwerte. Die Emissionen im Realbetrieb haben ja teilweise gar nichts mehr zu tun mit dem, was auf der Testrolle gemessen wird. Das ist ein schweres Versagen sowohl der Automobilindustrie als auch der Politik.
Wir müssen zwischen widerstreitenden Zielen abwägen
Und was hat der Dieselgipfel gebracht?
Kretschmann:: Auf dem ersten Dieselgipfel haben wir unter anderem ein Software-Update vereinbart, dessen Kosten von den Automobilunternehmen übernommen werden. Das bringt schon eine erste Senkung der Stickoxid-Emissionen bei Euro 6 und Euro 5. Aber das reicht eben alles nicht. Außerdem muss ich neben dem gewichtigen Gesundheitsschutz der Menschen auch den Klimaschutz, die Wertschöpfung und die Arbeitsplätze der Automobilindustrie miteinbeziehen. Das muss ein Verband wie die Deutsche Umwelthilfe nicht. Die kann einfach drauflos gehen. Und zwischen diesen wichtigen Zielen muss ich einen Weg finden. Das ist Aufgabe der Politik. Die muss immer abwägen zwischen widerstreitenden Zielen. Es hat keinen Sinn, das eine gegen das andere auszuspielen.
Was heißt das im Klartext?
Kretschmann: Wenn wir den Klimawandel nicht bremsen, hat das katastrophale Auswirkungen für die gesamte Menschheit. Es geht um Leben und Gesundheit. Das sieht man jetzt an den zunehmenden Unwetterkatastrophen. Also, das müssen wir abwägen, und das tun wir mit großem Ernst. Die Bundeskanzlerin hat für November einen zweiten Dieselgipfel angekündigt. Schritt für Schritt soll erreicht werden, dass keine Fahrverbote in Städten notwendig werden.
Stehen Sie hier auf der Seite der Kanzlerin?
Kretschmann: Ich werde auf der Seite meines Landes und seiner Einwohner stehen.
Die Automobilindustrie steht vor enormen Herausforderungen
Also auch auf der Seite der Autoindustrie?
Kretschmann: Wir lassen die nicht allein. Man muss sehen, wir sind ein Automobilland und haben sehr viele hochwertige Arbeitsplätze bei der Automobilindustrie. Sie steht vor enormen Herausforderungen. Die ganze Mobilität wird neu erfunden und das in kürzester Zeit. Da hängt viel mehr dran als das, was man jetzt ein bisschen verengt unter Elektromobilität sieht.
Das automatisierte Fahren wird kommen, aber auch die Vernetzung von allen Mobilitätsträgern. Ich komme gerade von der größten Fahrradmesse Europas, der Eurobike in Friedrichshafen. Das Fahrrad wird ein Hightech-Produkt. Und wenn nicht mehr Leute auf diese Räder umsteigen, auf E-Bikes zum Beispiel, können wir die von Ihnen genannten Probleme nämlich gar nicht wirklich lösen.
Man muss also alles in einem Gesamtzusammenhang sehen und darf nicht einzelne Aspekte herausgreifen?
Kretschmann: Ja, wir stehen vor einer großen Aufgabe. Und deswegen habe ich als erster Ministerpräsident hier einen strategischen Dialog zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft eingerichtet. Das ist ein neues Format. Auf sieben Jahre angelegt, um die anstehenden Probleme so zu lösen, dass wir den Klimaschutz voranbringen, die Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten und die Arbeitsplätze sichern. Alles ist sehr wichtig.
Machen wir uns nichts vor, das ist eine riesige Herausforderung. Im Westen Tesla, im Osten China. Und wer mal hinstehen muss vor einen Betrieb, der geschlossen werden muss und Hunderte von Leuten unverschuldet die Arbeit verlieren, weiß, wie schwierig es ist. Das muss man mal erlebt haben. Da geht es an die Existenz, an die materielle Existenz von Menschen. Die Transformation in der Automobilindustrie wird die größte Herausforderung in meiner Amtszeit.
Wir dürfen nicht leichtsinnig und schlafmützig werden
Ein Prozess also, der auch große Gefahren birgt?
Kretschmann: Die Gefahr ist immer, wenn es einem gut geht – und uns geht es zurzeit wirtschaftlich wirklich sehr gut –, dass man leichtsinnig wird und ein bisschen schlafmützig vielleicht, und denkt, das wird immer so bleiben. In Wirklichkeit lauern immer Gefahren im Hintergrund. Die sind groß und darum müssen wir jetzt in einem strategischen Dialog schauen, dass wir schnell in das emissionsfreie Fahren kommen.
Gleichzeitig müssen wir verhindern, dass es Verwerfungen gibt, die dann in großem Ausmaß Arbeitsplätze gefährden. Schließlich muss man sehen, dass der elektrische Antrieb viel einfacher ist und ganze Industriezweige wegfallen. Allein bei Bosch hängen 15.000 Arbeitsplätze am Diesel. Ich habe das Thema schon vor anderthalb Jahren in Gang gesetzt. Wenn die Bundesregierung die blaue Plakette schon vor zwei Jahren auf den Weg gebracht hätte, wäre es ein berechenbares Prozedere gewesen. Ohne Verwerfungen und größere Fahrverbote. Das ist alles versäumt worden. Bundesverkehrsminister Dobrindt hat sich eben nur um diese komische Ausländermaut gekümmert – und alles andere liegen lassen.
Hat die Automobilindustrie die richtige Weichenstellung verschlafen?
Kretschmann: Die Automobilindustrie in Deutschland ist ein bis zwei Jahre hinten dran. Wir merken das überall. Zum Beispiel bei Elektrobussen. Da sind ja die Städte betroffen. Und hier fragt man sich, wo sind die deutschen Anbieter? Fehlanzeige – kommt später. Die deutsche Automobilindustrie hinkt hinterher. Und sie hat mit dem Dieselgate viel Vertrauen verloren. Es gibt einen schönen Satz vom Gründer eines unserer berühmtesten Konzerne, nämlich Robert Bosch. Der hat mal gesagt, lieber Geld verlieren als Vertrauen. Ich hoffe, dass die Automobilindustrie aus dieser Lektion gelernt hat.
Wenn wir den Rückstand aufholen haben wir eine Chance
Sehen Sie dafür Ansätze?
Kretschmann: Durchaus. Die deutschen Autobauer steigen jetzt massiv in die Elektromobilität ein. Diesel der neuesten Generation halten auch die Grenzwerte tatsächlich ein, das heißt wir haben tatsächlich die ersten sauberen Diesel, die auch bei Real Drive Emissions, das heißt bei Straßentests bestehen. Diese sauberen Diesel können auch als Übergangstechnologie zum emissionsfreien Fahren dienen. Wir reden viel über Fehler der Vergangenheit. Die sind schwer zu korrigieren, auch wenn wir alles dafür tun. Wir müssen aber auch den Blick in die Zukunft richten. Wenn wir diesen Rückstand jetzt aufholen, haben wir die Chance, führendes Mobilitätsland zu bleiben. Ich erinnere an einen Spruch am Anfang meiner Regierungszeit: Weniger Autos sind besser als mehr. Den bestreitet heute niemand mehr. Wie soll man denn die Staus wegbekommen, wenn nicht weniger Autos in den Ballungszentren rumfahren?
Und wie wollen Sie das konkret ändern?
Kretschmann: Wir brauchen eine bessere Vernetzung der Verkehrsträger. Mehr Leute sollen zum Beispiel mit modernen Fahrrädern zum Arbeitsplatz fahren. Dann müssen wir aber auch die Infrastruktur ausbauen. Zum Beispiel genügend Ladestationen für Elektroautos einrichten. Alle sind bei diesem Thema gefordert, die Automobilwirtschaft, der öffentliche Verkehr, die Wissenschaft, die Politik und die Zivilgesellschaft. Nur gemeinsam können wir diese Herausforderung meistern. Denn andere Länder schlafen nicht. Wir machen das alles unter hohem Wettbewerbsdruck.
Große Wendlinger Kurve wird sicher kommen
Von der Straße auf die Schiene. Im Blick haben wir im Kreis ja die Neubaustrecke in Wendlingen. Noch ist nicht entschieden, wie die Wendlinger Kurve ausgebaut werden soll?
Kretschmann: Die Große Wendlinger Kurve wird kommen. Davon bin ich fest überzeugt. Mein Verkehrsminister hat jetzt die Planung in Auftrag gegeben. Wir haben jetzt entsprechende Signale nach dem Debakel auf der Rheintalstrecke. Wir können uns solche Nadelöhre nicht erlauben. Da gibt man Milliarden für Stuttgart 21 aus und macht ein Nadelöhr. Das kann nicht sein. Die Signale stehen zwar noch nicht ganz auf Grün, aber auch nicht mehr auf Rot. Ich bin zwar nur Ministerpräsident und kein Prophet, aber ich will mal die Prognose wagen, dass die Große Wendlinger Kurve kommen wird. Mit meinem Verkehrsminister habe ich das erst am Mittwoch besprochen. Ich bin überzeugt, die Signale werden bald auf Grün gestellt.
Das heißt, das Land geht in Vorleistung, auch bei der Finanzierung?
Kretschmann: Wir gehen jetzt bei der Planung in Vorleistung und wir werden das wahrscheinlich aus GVFG-Mitteln (Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz) finanzieren müssen. Aber die Große Wendlinger Kurve muss kommen, das ist gar keine Frage. Auf der Rheintalstrecke sieht man ja jetzt, was passiert, wenn irgendwo eine Strecke zu ist. In so einer Situation kann man nicht neue Nadelöhre schaffen. Das wäre doch ein wirklicher Schildbürgerstreich.
Hat das Debakel auf der Rheintalstrecke da noch einen Schub gegeben?
Kretschmann: Ja, das hat eindeutig einen Schub gegeben. Gott sei Dank haben solche schlimmen Vorkommnisse und Versagen im Prinzip auch immer Lerneffekte. Sonst müsste man ja verzweifeln an der Menschheit.
Die Fragen stellte Anneliese Lieb.
Quelle:
Das Interview ist am 2. September 2017 in der Nürtinger Zeitung erschienen.